Verborgene Lust
spendet Licht in dem feuchten Raum. Trotz der Hektik um sie herum lässt Maria sich Zeit. Sie hat ein Brot dabei, das Jacqueline heute Morgen für sie geschmiert hat. Es sind zwei Scheiben von dem einfachen, aber kostbaren – da rationierten – Brot, mit einer grauen Fleischpaste. Sie hat keine Ahnung, wohin sie gehen soll, um ihr Brot zu essen, und ist zu schüchtern, jemanden zu fragen. Langsam leert sich die Umkleide, und schließlich bleibt Maria allein zurück.
Sie hängt ihr schweißnasses Trikot auf und ist froh, dass sie für den Nachmittag noch ein frisches dabeihat. Sie zieht Rock und Pullover an, knöpft den Mantel zu und nimmt ihre Tasche. Nun, sie sollte zumindest etwas frische Luft schnappen. Sicher findet sie einen Park, in den sie sich setzen kann. Hungrig ist sie überhaupt nicht. Vielleicht verfüttert sie ihr Brot an die Londoner Tauben, obwohl ihr klar ist, dass das bei den Essenskürzungen und Rationierungen etwas unmoralisch wäre.
Sie tritt aus der Tanzschule, die sich in einem alten roten Backsteinhaus befindet, das dem von Jacqueline ähnelt. Einen Moment steht sie auf dem Bürgersteig und überlegt, in welche Richtung sie gehen soll.
Da ertönt hinter ihr eine Stimme: »Hallo.«
Sie dreht sich um. Das blonde Mädchen aus ihrer Klasse rückt ihren Hut zurecht und kommt auf Maria zu. Das Mädchen streckt die Hand aus.
»Joan«, stellt sie sich vor.
»Maria.«
»Freut mich, dich kennenzulernen. Und woher kommst du, Maria?«
Die Mädchen beginnen die Straße hinunterzugehen.
»Aus Italien«, murmelt Maria und erwartet eine feindselige Reaktion, denn Joan klingt ziemlich britisch.
»Ach, Italien.« Zu Marias Überraschung reagiert Joan vielmehr beeindruckt. »Hast du ein Glück. Woher aus Italien kommst du?«
»Aus Venedig.«
»Nein, wirklich? Ach, ich habe immer davon geträumt, einmal dorthin zu fahren. Ist es so schön, wie man sagt?«
Während sie die Kennington Road hinuntergehen und nach Abgasen stinkende Autos und Laster an ihnen vorbeifahren, denkt Maria an ihre Heimatstadt. Sie ist das genaue Gegenteil von diesem urbanen Dschungel.
»Oh, ja«, schwärmt sie. »Es ist ein bezaubernder Ort.«
Joan kichert. »Ach, ich liebe es, wie du Englisch sprichst. Das hört sich so süß an. Du klingst ein bisschen amerikanisch.«
Maria spürt einen leichten Stich.
»Das habe ich von Jacqueline gelernt.«
»Sie ist Halbamerikanerin, stimmt’s? Deshalb also«, stellt Joan fest.
Plötzlich bleibt sie stehen und legt eine Hand auf Marias Arm.
»Jetzt weiß ich, wer du bist. Bist du nicht die Tochter von dieser unglaublichen Italienerin, von der Jacqueline ständig redet? Von Belle?«
»Ja, das bin ich.«
»Sie ist so mutig. Dass sie all diesen Juden geholfen hat, im Krieg zu fliehen. Du musst sehr stolz auf sie sein.«
»Ja, klar.« Aber Maria erinnert aus jener Zeit nicht, wie mutig, sondern nur wie angespannt ihre Mutter war. Sie konnte nicht aufhören, Menschen zu helfen, und zugleich hatte sie ständig Angst, entdeckt zu werden. Wenn Maria so darüber nachdenkt, hat Belle Pinas und ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um das Fremder zu retten. Sie weiß, dass es nicht besonders edel ist, so etwas zu denken, aber es ist die Wahrheit.
»Trinken wir eine Tasse Tee und essen ein Rosinenbrötchen. Hast du Lust? Da unten in der Straße ist ein Café.«
Joan ist sehr redselig, aber Maria mag sie. Sie ist so herzlich und warm, ganz anders als die anderen Engländer, denen sie bisher begegnet ist.
»Und? Was hältst du von Lempert?«, will Maria wissen.
»Um ehrlich zu sein, habe ich Schwierigkeiten, seinen Ansatz zu verstehen.«
»Ach, mach dir keine Sorgen, das begreifst du schon noch früh genug. Sobald wir anfangen, richtig zu tanzen.« Joans Augen leuchten.
Sie klappt ihre Zigarettendose auf und bietet Maria eine Zigarette an.
»Ich bin verliebt in ihn«, erklärt Joan dramatisch, »aber ich bin auch in etliche andere Männer verliebt.« Sie seufzt mit großer Geste. »Ich verliebe mich leicht, weißt du?«
Sie nimmt die Zigarette aus dem Mund und trinkt noch einen Schluck von ihrem Tee.
Maria betrachtet den Abdruck ihres roten Lippenstifts am Filter.
»Ich war noch nie verliebt«, sagt Maria unvermittelt und ist erschrocken, dass sie ihrer brandneuen Bekanntschaft ein solches Geständnis macht.
»Ach, aber du bist noch so jung. Du stehst noch ganz am Anfang. Wie alt bist du?«
»Achtzehn. Aber du siehst auch nicht viel älter aus als ich«, wendet Maria
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