Verborgene Lust
sich an die Balletttänzer, »ihr werdet deutlich mehr arbeiten müssen als diese Tänzer. Eure Körper haben sich durch das klassische Balletttraining gewisse Haltungen angewöhnt. Einige Muskelgruppen arbeiten nur mit bestimmten anderen zusammen. Deshalb müssen wir eure Körper in einem Maß entspannen, das euch daran hindert, in eure klassischen Haltungen zu verfallen.«
»Meinen Sie, dass klassisches Ballett falsch ist?«, fragt ein rotgelocktes Mädchen aus der Balletttänzergruppe.
Lempert schüttelt den Kopf.
»Natürlich nicht, Alicia, so einfach ist das nicht. Aber klassisches Ballett ist tief in der Tradition verwurzelt. Wir beim Ballett Jooss versuchen etwas anderes zu machen. Wenn ihr euch zum Beispiel unsere Themen anseht, wie würdet ihr sie beschreiben?«
»Als revolutionär«, sagt die Frau mit den kurzen dunklen Haaren, die neben Maria steht. Lempert fährt herum.
»Absolut«, bestätigt er, »sie sind politisch, sozial und humanistisch. Sie vereinen Gefühl und Verstand. Das ist es, was wir hier versuchen, Seele, Verstand und Körper miteinander zu verbinden. Wir wollen kommunizieren.«
Marias Kopf beginnt zu pochen. Das ist ihr zu viel Theorie. Sie will einfach nur tanzen. In ihr steigt eine Erinnerung auf. Sie und Jacqueline sind in dem verlassenen Erdgeschoss eines alten Palazzos. Jacqueline spielt auf einem blechernen alten Klavier, das Belle irgendwo ausgegraben hat, und sie tanzt für Jacqueline, ihre Mutter und Pina. Es ist wie eine goldene Erinnerungsschleife. Die venezianische Wintersonne scheint durch die zum Teil mit Brettern vernagelten Fenster. Mit ihren nackten Füßen wirbelt Maria Staub auf, der in der Sonne schwebt. Ihre Mutter und Pina sehen ihr zu, und trotz ihrer anerkennenden Blicke tanzt sie nicht für sie, sondern für einen Geist, der neben ihnen sitzt. Ihren Vater: Santos Devine, Abenteurer und Seemann.
Zu ihrer Erleichterung klatscht Lempert in die Hände und signalisiert der Gruppe, wieder zusammenzukommen.
»Nun«, sagt er. »Genug geredet. Fangen wir an.«
Überraschenderweise fordert Lempert sie auf, die Tanzschuhe auszuziehen. Die Holzplanken fühlen sich kühl unter ihren nackten Fußsohlen an.
»Kein Tanz«, instruiert er sie, »ich will nur Bewegung.«
Er nickt dem Pianisten zu, der auf einem Podium unter einer kleinen Galerie am Ende des Studios sitzt.
»Auf vier möchte ich, dass ihr durch den Raum geht. Kein Augenkontakt, bitte. Der Blick ist auf den Boden gerichtet. Eins, zwei, drei, vier …«
Maria beginnt zu gehen, ohne ihre Mittänzer anzusehen, und fragt sich, was die anderen denken. Einerseits hat sie Angst, sich zum Narren zu machen, andererseits ist sie aufgeregt. Langsam ahnt sie, wovon ihr Lehrer spricht.
»Ich will, dass ihr euch zögerlich bewegt«, ruft er.
Der Pianist verlangsamt den Rhythmus, woraufhin Maria durch das Studio zu schlurfen beginnt.
»Geht, als seid ihr zufrieden.« Maria schlendert durch den Raum. Sie stellt sich vor, sie sei ein großer Mann mit einem dicken Bauch. Er ist gut genährt und zufrieden. Sie streckt den Bauch heraus und legt eine Hand darauf.
»Und mit Freude.« Jetzt ist sie eine schwarze Katze in Venedig, die über die Dächer springt, im Sonnenlicht herumtollt und sich die Sahne von der Nasenspitze leckt.
»Jetzt ganz frei.« Maria gleitet über einen zugefrorenen Fluss und stellt sich vor, wie sich das anfühlt. Noch nie in ihrem Leben ist sie Schlittschuh gelaufen. Das Bild hat für sie jedoch etwas Magisches, das Gefühl, sich anmutig, schnell und im perfekten Gleichgewicht über das Eis zu bewegen.
Während sie durch den Raum gleitet, fällt ihr Blick auf ihre blonde Freundin, die auf Zehenspitzen durch das Studio tippelt. Wie unterschiedlich ihre Vorstellungen von Freiheit sind.
Obwohl es der erste Unterrichtstag ist, hat Lempert kein Erbarmen mit ihnen. Nach zwei Stunden Körperarbeit sind alle außer Atem. Marias schwarzes Trikot klebt an ihrem schweißnassen Körper.
»Genug«, verkündet Lempert plötzlich. »Jeden Morgen haben wir technischen Unterricht, und am Nachmittag befassen wir uns mit verwandten Themen wie Choreografie, Theorie, Bühnenpraxis, Make-up und Aktzeichnen. Dies ist eine umfassende Tanzausbildung. Eine organische Herangehensweise.«
Die Tänzer tuscheln überrascht.
»Jetzt machen wir eine Mittagspause. Seid um zwei Uhr zum Theorieunterricht zurück.«
Die Mädchen drängen sich in die winzige Umkleide, in der es kein Fenster gibt. Lediglich eine nackte Glühbirne
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