Verborgene Lust
Laptop auf. Seit ein paar Tagen schon hat sie nicht mehr in ihre E-Mails gesehen. Sie mag es nicht, jederzeit erreichbar zu sein. Manchmal stellt sie sich vor, sie besäße den Mut, ihr Mobiltelefon vom Dach des Doms hinunterzuwerfen und zuzusehen, wie es auf der Piazza in winzige Teile zerspränge, aber ihr ist klar, dass das ihren beruflichen Selbstmord bedeuten würde. In ihrem Posteingang befinden sich eine Menge Mails. Die meisten interessieren sie nicht, doch eine erregt ihre Aufmerksamkeit. Neugierig blickt sie auf die Betreffzeile: Ausstellung erotischer Fotografie.
Sie öffnet die Nachricht und muss den Text zweimal lesen, bevor sie den Inhalt begreift. Man bietet ihr an, Ende nächsten Monats an einer Sammelausstellung erotischer Fotografie in der Lexington Gallery im Londoner Stadtteil Soho teilzunehmen. Endlich wird sie für ihr Engagement und ihre Mühen belohnt. Nach der Trennung von Thomas hatte sie im Winter ganze Tage damit verbracht, Präsentationsmappen an Londoner Galerien zu verschicken. Sie hatte sich eingeredet, dass sie schon immer in London ausstellen wollte. Wenn sie ehrlich ist, spielt es aber keine unwesentliche Rolle, dass die Stadt Thomas’ neue Heimat ist. Ohne zu zögern greift Valentina zum Telefon. Zum Teufel mit Raquels Familienessen, sie muss jetzt mit Leonardo sprechen.
»Leonardo, weißt du was? Ich bin zu einer Ausstellung in die Lexington Gallery nach London eingeladen!«, verkündet sie, bevor ihr Freund sich überhaupt richtig gemeldet hat.
»Das ist großartig, Valentina, aber ich kann jetzt nicht reden.« Leonardo klingt ungewöhnlich reserviert.
»Ach, tut mir leid.« Unwillkürlich ist sie etwas verletzt. Sie stellt sich vor, wie Leonardo und seine sinnliche Frau Raquel beim Abendessen ihre Familie unterhalten. In der Luft hängt der Duft von selbstgekochtem Essen, großzügig wird Wein in Gläser geschenkt, Jung und Alt plaudern miteinander, und unter dem Tisch verstecken sich die Kinder zwischen den Beinen der Erwachsenen. So etwas hat Valentina in ihrem ganzen Leben noch nicht miterlebt.
»Ich rufe dich später an.« Seine Stimme tut ihr gut. »Gut gemacht, Valentina. Das sind wirklich tolle Neuigkeiten.«
Endlich passiert in ihrem Leben etwas, das sie von ihrem Liebeskummer ablenkt. Endlich macht sie sich nicht mehr nur einen Namen als Mode-, sondern auch als Kunstfotografin. Damit tritt sie aus dem Schatten ihrer Mutter: Tina Rosselli, Mailands berühmte Modefotografin der Sechziger- und Siebzigerjahre. Sie löst sich von den Vergleichen mit ihrer Mutter und baut sich ihre eigene Welt auf. Vielleicht hat sie deshalb weiter an diesen Fotografien gearbeitet. Die Erlebnisse in Leonardos Club haben ihr gutgetan. Sie war nicht sie selbst, sondern verschwand hinter ihrer Kamera. Sie war eine Fremde, die Fremde beobachtete und sie fotografierte, wenn sie ihre intimsten Gefühle offenbarten, ihre geheimen Wünsche, ihre dunklen Seiten. Die Aufrichtigkeit dieser Szenen berührte sie jedes Mal. Es waren die einzigen Momente, in denen sie ihrem Schmerz entkam. Also setzte sie ihre Aufnahmen fort und war ganz erfüllt von ihrer Mission, Sex auf eine ästhetisch ungewöhnliche, schöne und ansprechende Weise darzustellen.
Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, ihr Herzschlag beschleunigt sich. Sie muss keinen Moment darüber nachdenken. Schnell tippt sie eine Antwort und nimmt die Einladung an.
Endlich kann sie Mailand und ihren Erinnerungen an Thomas eine Weile entkommen. In London wird sie sich neu erfinden. Doch Valentina weiß, dass sie nicht nur der Gedanke an die Ausstellung begeistert. Endlich hat sie einen Grund, nach London zu fliegen. Es ist eine riesige Stadt mit Millionen von Einwohnern, aber sie ist auch Thomas’ neues Zuhause. In London wird sie ihm näher sein.
Maria
1948
Am Tag ihrer Abreise regnet es, wie es das nur in Venedig tut. Auf dem Weg zur Fähre geht ein regelrechter Platzregen auf sie nieder. Das Wasser aus der Lagune schwappt über das Pflaster und mischt sich mit den Pfützen. Kaum hat sie das Haus verlassen, sind ihre Füße bereits nass.
Die Fähre ist schon da. Maria umfasst den Griff ihres Koffers und spürt, wie das steife Leder in ihrer Hand brennt. Ihre Brust ist wie zugeschnürt. Endlich verlässt sie die Stadt.
Ihre Mutter legt ihr die Hände auf die Schultern, drückt sie fest und sieht ihr aufmerksam in die Augen. Sie trägt keinen Hut, und ihr Haar klebt wie ein glänzender schwarzer Helm an ihrem Kopf.
»Vergiss nie, wer du
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