Verborgene Macht
wusste, dass einer von ihnen dafür verantwortlich gewesen sein musste, aber ich wusste nicht, wer. Ich hatte sie alle im Verdacht. Das ganze letzte Jahr bin ich kaum in den Gemeinschaftsraum gegangen. Das hat enge Freundschaften irgendwie schwierig gemacht. Und sie sind noch aus anderen Gründen vor mir auf der Hut.«
»Wie zum Beispiel?«
Ranjit seufzte. »Die Auserwählten respektieren Macht - so definieren wir uns. Und ich bin stark, Cassie. Einer der stärksten Auserwählten an der Akademie. Ich mache die anderen nervös - oder neidisch.«
Mit einem Lächeln hob Cassie die Hand und fuhr ihm mit den Fingern durch das pechschwarze Haar. »Erzähl mir mehr«, sagte sie. Er lachte leise. »Woher wissen sie überhaupt, dass du so mächtig bist? Woran erkennen sie das?«
Ranjit warf ihr einen fragenden Blick zu. »Siehst du es nicht?«, fragte er.
Cassie zuckte die Achseln. »Nein.«
»Versuch es. Schau dir die anderen genau an. Spüre ihre Stärke.«
Cassie versuchte, sich nicht allzu auffällig zu benehmen, und veränderte ihre Position auf dem Sofa ein wenig, sodass sie den Raum überblicken konnte. »Was muss ich tun?«
»Entspann dich einfach. Öffne deinen Geist und lass es zu.«
Cassie, der das Ganze zutiefst peinlich war, starrte ihre Schulkameraden angestrengt an. Einen Moment lang geschah gar nichts. Dann begann sie langsam ein Leuchten wahrzunehmen, das aus jedem Einzelnen von ihnen zu kommen schien. Ein Lichtball, der in Höhe ihrer Herzen schwebt. »Sie sind wunderschön«, hauchte sie.
»Es sind die Geister der Auserwählten«, flüsterte Ranjit ihr ins Ohr. »Je heller das Licht, umso stärker der Geist.«
Einige der Lichter leuchteten sanft, andere brannten machtvoller. Cormacs Licht war gedämpft und stetig, aber Ayeeshas war so hell wie ein Scheinwerfer. Das Mädchen aus Barbados musste über eine Menge Macht verfügen. Jetzt ließ Cassie den Blick über die anderen im Raum gleiten und konnte plötzlich sehen, dass die Cliquenbildung sich fast überall an einem Machtgefüge orientierte.
Yusuf, dessen Geist beinahe so hell schien wie Ayeeshas, war umringt von einem Trio weniger mächtiger Auserwählter. Es schien, als würden sie bei ihm Schutz und Führung suchen. In der gegenüberliegenden Ecke hatte sich eine Gruppe viel schwächerer Lichter zusammen- gefunden. Es war beinahe so, als suchten sie Sicherheit in ihrer Anzahl. Unter ihnen befand sich Richard, und Cassie war überrascht zu sehen, dass der Geist des englischen Jungen kaum heller leuchtete als eine Kerzenflamme. Seltsam, sie hatte ihn immer für eine große Nummer unter den Auserwählten gehalten...
»Jetzt sieh mich an«, murmelte Ranjit, und sein samtiger Ton lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Beim Anblick seines Geistes stockte Cassie der Atem. Er strahlte ihm aus der Brust wie ein gefallener Stern und überschattete alle anderen Lichter im Raum.
Oder fast alle anderen.
Als Cassie den Blick senkte, sah sie zum ersten Mal den Schein aus ihrem eigenen Körper — so hell wie der von Ranjit, wenn auch anders. Statt sich in ihrer Brust zu sammeln, wirkte ihr eigenes Licht irgendwie diffus. Als sie die Hand ausstreckte, um sein Gesicht zu berühren, konnte sie eine Aura sehen, die ihren Arm umgab, wie ein Heiligenschein. Kopfschüttelnd ließ sie die Vision verblassen.
»Ich bin anders«, sagte sie leise.
Ranjit ergriff ihre Hand. »Du bist perfekt.«
Cassies Herz setzte einen Herzschlag lang aus. Sie lächelte ihn schüchtern an. »Wenn du es sagst.«
»Also, jetzt hast du sie gesehen, wie sie wirklich sind«, meinte Ranjit grinsend. »Vielleicht wäre es gut, einige besser kennenzulernen. Unter den Auserwählten gibt es nämlich durchaus einige anständige Kerle.«
Sie beugte sich vor und berührte schelmisch seine Lippen mit ihren. Irgendetwas an seinem Blick war wie ein Magnet; sie konnte die Finger nicht von ihm lassen.
»Das weiß ich doch«, flüsterte sie vielsagend.
»Na ja, solltest du jemals deine Meinung ändern ... du würdest sicherlich auch unter den nicht so anständigen fündig werden.«
»Wie meinst du das?« Cassie runzelte die Stirn.
Ranjit deutete mit dem Kopf auf Richard, der sich jetzt auf einem Ecksofa lümmelte und in einer Kopie des National Enquirer blätterte.
»Willst du andeuten, dass ich ihn mag?« Entrüstet rückte sie ein wenig von ihm ab.
»Immerhin hat er von August bis Dezember ständig mit dir geflirtet...«
»Ach, und das ist meine Schuld, oder was?«
Ranjit
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