Verborgene Sehnsucht
Nervenkitzel der Jagd viel zu sehr, um sich die Gelegenheit entgehen zu lassen. Und wenn man dazu noch seine sadistische Ader in Betracht zog, war das Rätsel gelöst. Er ließ sie gehen, sich ein Versteck suchen, spielte Katz und Maus mit ihr, während sie ums Überleben kämpfte. Wartete, bis sie halb erfroren, ausgehungert und zu erschöpft war, um sich zu wehren. Und dann? Würde er ihr wieder wehtun. Sie zwingen …
Nein … nein. Denk nicht einmal daran.
Angela schüttelte den Kopf und verbannte die Erinnerung. Was vorbei war, war vorbei, ganz gleich, wie kurz es erst her war. Sie musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Auf die Tatsache, dass sie stark war, gut ausgebildet und, für den Moment, frei. Kein Grund, sich zusammenzurollen und zu sterben. Es stand nicht in einer göttlichen Ordnung festgeschrieben, dass Lothair gewinnen würde. Oder dass sie ihn nicht für das, was er ihr angetan hatte, bluten lassen könnte.
Der Gedanke verlieh ihr Mut und setzte sie in Bewegung. Aber als ihre Füße gehorchten und sie um den umgestürzten Baumstamm herumtrugen, warf sie einen Blick über die Schulter. Den Schwarzen Mann gab es wirklich. Und als das Knacken einiger Äste durch die Stille hallte, suchte Angela die Schatten ab: hielt Ausschau nach Drachen, erwartete fast schon, gepackt zu werden, während ihr das Herz schmerzhaft in der Brust hämmerte.
Lauf. Lauf. Lauf.
Sie begann zu rennen, lief zwischen den Bäumen hindurch. Als sie den letzten hinter sich ließ, wurde der Boden ebener. Nasse Blätter unter ihren Füßen, feucht vom letzten Regen, machten ihren Tritt unsicher und ließen den Geruch nach verrottender Erde und modrigem Laub aufsteigen. Aber der Geruch hatte auch etwas Positives … er bedeutete einen weicheren Untergrund. Angenehmer für die Füße als die Kiefernnadeln, über die sie in höherem Gelände gelaufen war.
Sie verlangsamte ihre Schritte und schlängelte sich zwischen den umgestürzten Zedern hindurch. Sie ignorierte die hölzernen Finger, die nach ihr griffen und sie festhielten, ihre ganze Aufmerksamkeit war auf eine Waldlichtung gerichtet, in der das dornige Gestrüpp dünner wurde. Die untergehende Sonne hing tief am Himmel, schien zwischen den Bäumen hindurch und verlieh den Ästen ein orangefarbenes Glühen. Sie kniff die Augen zusammen und blickte geradeaus. Eine Lichtung und …
Wasser. Sie konnte das leise Rauschen und Plätschern hören. Ein Gletschersee? Vielleicht ein Fluss?
Angela betete um Letzteres. Ein Fluss lief schließlich irgendwohin. Und wo das Wasser vorbeikam, siedelten sich Menschen an, bauten Städte und Häuser an den Ufern.
»Bitte, bitte«, flüsterte sie und rannte auf den Rand der Lichtung zu.
Anderthalb Meter vor ihrem Ziel schwenkte sie nach rechts hinter einen Felsbuckel. Zeit, sich umzusehen. Es hatte keinen Sinn, ihre Deckung zu verlassen. Zumindest nicht, bis sie wusste, was hinter der letzten Baumreihe lag.
Den blauen Chevy sah sie zuerst. Ohne Reifen, ungefähr Baujahr 1950. Halb im Dreck versunken, neigte sich die Rostlaube zu einer Seite, eine verbogene Radachse ragte in die Luft, als warte sie darauf, Angela die Hand zu schütteln. Angela strich im Vorübergehen darüber und wischte Roststückchen vom kalten Metall, um sicherzugehen, dass der Wagen echt war.
Sie hatte nie zu Halluzinationen geneigt, aber sie war mehr als durchgefroren, mehr als erschöpft. Also ja, die Realität zu überprüfen schien ihr eine gute Idee. Vor allem jetzt, da die Müdigkeit einsetzte und ihre gewöhnlich scharfen Sinne stumpf werden ließ.
Angela rieb sich die Augen und zwang sich, geradeaus zu sehen.
»Oh, Gott sei Dank.«
Eine Hütte. Eingebettet zwischen zwei uralten Kiefern.
Klein und mit schiefer Dachrinne. Moos hatte den Ort erobert und wucherte als unangefochtener Herrscher zwischen den rissigen Holzstämmen und auf den alten Dachschindeln. Die hölzernen Verandastufen waren ihm bereits zum Opfer gefallen. Die Zeichen der Verwahrlosung waren allgegenwärtig, und als sie den Blick über das Gelände schweifen ließ, nahm sie noch andere Details war. Der eingefallene Schornstein. Ein verlassener, von Unkraut überwucherter Garten. Ein weiteres Auto aus einer längst vergessenen Ära stand daneben. Doch das Dach der Hütte wirkte dicht und die Fenster waren heil.
Innerhalb von Sekunden war Angela mitten auf der Lichtung, ihre Schritte auf dem festgetretenen Untergrund des kaum benutzten Pfades leise. Als sie an die Treppe kam, hielt
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