Verborgene Sehnsucht
Kribbeln glitt ihr über den Nacken. Ihr Kopf fuhr zur Eingangstür herum. Irgendetwas stimmte nicht. Das elektrische Gefühl wurde stärker, lief ihr Rückgrat hinunter, schrie ihr zu, loszulaufen. Sich zu verstecken. In den Fluss zu springen.
Adrenalin schoss durch ihre Adern, als sie in die Hocke ging. Angestrengt lauschend starrte sie durch die offene Vordertür, versuchte, im Dunkel etwas zu erkennen. Das dumpfe Schlagen schwerer Schwingen erklang über ihr, und Angela stockte der Atem. Oh, nein. Er war hier. Der Scheißkerl war …
»Hierher, Miez-miez-miez.« Das sanfte Knurren glitt durch die Nachtluft, erfüllte sie mit Angst. Ein leises Klacken folgte, als klauenbewehrte Pranken vor dem Haus aufsetzten.
Ohne nachzudenken, rannte Angela los, warf sich von der hinteren Veranda. Zweige brachen, als sie aufkam und verrieten ihren Aufenthaltsort. Es kümmerte sie nicht. Sie weigerte sich, anzuhalten. Lothair war ihr auf den Fersen. Sie konnte ihn in der Bergluft fühlen, spüren, wie er sich in der Dunkelheit erhob. Das Prickeln der entsetzlichen Gewissheit schoss ihr die Wirbelsäule hinunter, und Panik verlieh ihr Kraft. Ihr Instinkt schrie ihr zu, schneller zu laufen. Sie rannte im Zickzack durch die Bäume, den Blick fest auf das Wasser gerichtet, jeder Atemzug ein raues Keuchen in ihrer schmerzenden Kehle.
»Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein.«
Der schreckliche Singsang hallte durch das Mondlicht, durchschnitt die Stille, und Angela versuchte, nicht zu weinen. Trotzdem rollten die Tränen und hinterließen Zwillingsspuren auf ihren Wangen.
Rikar brach durch die Wolkendecke und schoss wie ein Racheengel Richtung Boden. Nebelfetzen lösten sich von seinen Flügelspitzen. Nach ihm kam der Rückstoß, drückte die Bäume bis auf den Boden nieder, während er über das Immergrün und das Gestrüpp jagte. Seine Nachtsicht war so scharf, dass er jeden einzelnen Grashalm erkannte. Vor ihm lichtete sich der Wald und hörte da ganz auf, wo ihm auf dem felsigen Abgrund über dem darunter liegenden Fluss der Erdboden ausging.
Er schwenkte nach rechts und zog gerade, folgte den Kurven des Flusses. Wieder nach rechts. Angelas Signal wurde stärker. Seine Magie reagierte, stieg so stark an, dass sich Eiskristalle bildeten. Sie überzogen seine Schuppen und brachten die Stacheln entlang seines Rückens zum Rasseln. Er hatte ihre Spur aufgenommen, und sein Sonar versorgte ihn beständig mit Informationen, schränkte das Zielgebiet immer weiter ein.
Das Ufer. Sie war irgendwo in der Nähe des Wassers.
» Schlaues Mädchen «, rief er ihr in Gedanken zu und versuchte, ihren Geist zu berühren. Mist. Er hoffte, sie verstand ihn … hörte die Anweisung, die er ihr zurief, trotz der Entfernung, die zwischen ihnen lag. » Angela … du musst ins Wasser. «
Er fühlte, wie sie die Richtung wechselte, die Geschwindigkeit erhöhte, spürte die Anstrengung in jedem ihrer Schritte. Rikar versuchte, die Verbindung noch zu vertiefen und sprach weiter wortlos mit ihr. » Komm schon, mein Engel. Du schaffst es. «
Bumm-bumm. Bumm-bumm.
Ihr Herzschlag trieb zu ihm herüber, pulsierte durch die kalte Bergluft, um sich mit dem seinen zu vereinen. Sein Puls schoss in die Höhe, als er sich mit ihrer Lebensenergie verband, sie noch stärker antrieb. Er wusste, was hinter ihr her war. Zwar wusste er nicht genau wie der Wichser hieß, aber er konnte ihn fühlen. Sein Drachenradar schnappte alle möglichen Signale auf, sodass er einen Eindruck von groß, dunkel und hässlich erhaschen konnte, aber darüber hinaus?
Nicht viel. Und anders als Bastian konnte er die Stärken und Schwächen eines Gegners nicht aus der Entfernung beurteilen. Zu dumm. Das Talent hätte er heute Nacht gut gebrauchen können. Vor allem, da Bastian nicht mit von der Partie war.
Was für ein verdammter Albtraum. Nichts lief wie geplant.
Problem Nummer eins? Mac.
Als Jungdrache konnte man ihn nicht alleine lassen, und es kamen nicht viele dafür in Frage, sich um ihn zu kümmern. Venom ganz sicher nicht. Nicht, nachdem er den Cop den ganzen Tag über Hohlkopf genannt hatte. Man konnte nicht wissen, ob der Krieger ihren Neuzugang grillte oder ob er ihm half. Und Wick? Rikar schnaubte. Niemals würde er dem Kerl so etwas anvertrauen. Ihr soziopathischer Mitbewohner war nicht für’s Babysitten gemacht, ganz gleich, wie die Umstände waren. Also blieb nur noch Bas übrig in Mysts Loft darauf zu warten, dass Mac aufwachte.
» Verdammt, Rikar.«
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