Verbotene Früchte - Spindler, E: Verbotene Früchte
dieses Haus waren sehr bekannt, vor allem in seiner Blütezeit.“ Er hielt den Wagen an. „Da wären wir.“
Santos sagte nichts mehr, bis sie im Haus waren und ihre Schritte in der Stille hallten. Beim Umzug hatten er und Lily das meiste Mobiliar zurückgelassen und mit weißen Laken abgedeckt. Ihre Wohnung war nicht groß genug gewesen, und Lily wollte die alten Sachen nicht mehr um sich haben.
„Ich komme sooft ich kann her“, sagte Santos, „um nach dem Rechten zu sehen. An einem so alten Gebäude ist immer irgendetwas zu reparieren. Lily kann es sich nicht leisten, jemand einzustellen, der das Haus in Ordnung hält. Deshalb mache ich die meisten Reparaturen selbst.“
Danach folgte er Glory schweigend, während sie durch die hohen Räume ging, den Kopf nach allen Seiten wendete, um alles aufzunehmen. Manchmal blieb sie stehen und hob ein Laken an, um sich ein Möbelstück anzusehen. Ihr Gesicht verriet Verwunderung und Angst, Zweifel und Gewissheit in einem.
Glory blieb stehen und betrachtete ein Porträt über dem Kamin. Als junges Mädchen hatte sie nur eine gewisse Ähnlichkeit mit ihren Vorfahrinnen gehabt, als erwachsene Frau war sie fast deren Ebenbild. Das hier hätte genauso gut ein Porträt von ihr sein können. „Mein Gott, sie sieht ja aus wie …“
„Ich weiß.“ Santos blieb neben ihr stehen. „Das ist Lilys Großmutter Camellia Pierron. Die erste Bordellchefin. Es gab Camellia, Rose und dann Lily.“
„Sie hatten alle Blumennamen.“
„Bis auf deine Mutter. Lily wollte die Kette brechen. Sie hasste, was sie war, und wollte ein besseres Leben für ihre Tochter. Darum nannte sie sie Hope.“
Halb belustigt, halb verzweifelt stellte Glory fest: „Anscheinend stamme ich von einer langen, illustren Reihe von Karrierefrauen ab.“
„Könnte man so sagen“, bestätigte er schmunzelnd. „Sie waren alle klug. Sie unterhielten dieses Haus noch lange, nachdem es aus der Mode war. Außerdem waren alle schön, unglaublich schön sogar.“
„Und gefangen“, flüsterte Glory mehr zu sich selbst. „Was wurde aus ihren Söhnen?“
„Es gab keine. Nur Töchter, eine für jede Pierron.“
Wie bei Mutter.
Glory rieb sich die Arme, sichtlich bewegt. „Das könnte alles ein Zufall sein. Viele Louisianer französischer Abstammung ähneln sich im Aussehen, in Augen- und Haarfarbe. Ich ging mit einem Mädchen zur Schule, das man oft für meine Schwester gehalten hat.“
„Komm.“ Er führte sie zu den Fotos, die nicht lügen konnten. Sie nahm eines nach dem anderen, betrachtete es, wurde bleich und begann zu zittern.
„Siehst du, du gleichst ihnen aufs Haar. Und da ist eine Aufnahme von deiner Mutter.“
Sie sah ihn kurz aus tränenfeuchten Augen an. „Ist da noch mehr?“
„Ja. Hier entlang.“
Er führte sie auf den Speicher zu einer Truhe, die er ohne Lilys Wissen vor Jahren entdeckt hatte. Sie war voll mit Briefen von Lily an Glorys Mutter, die diese geöffnet, gelesen und gefühllos an den Absender zurückgeschickt hatte. Es waren Briefe einer verzweifelten, einsamen Mutter an die geliebte Tochter. Es waren Bitten um Vergebung und Liebe. Er hatte geweint, als er sie damals las, obwohl er achtzehn und ziemlich abgehärtet gewesen war.
Glory sank zu Boden, zog unsicher einen Brief heraus und starrte ihn an, ohne ihn zu lesen. Offenbar hatte sie Angst vor dem, was sie erfahren würde.
Er verstand sie, weil er den Inhalt kannte. Obwohl Glory verwöhnt und selbstsüchtig war, fehlte ihr doch die Gemeinheit ihrer Mutter. Was Hope ihrer Mutter angetan hatte, würde Glory nie fertig bringen.
Er räusperte sich. „Ich lasse dich jetzt eine Weile allein. Wenn du mich brauchst, ich bin unten.“
„Danke“, sagte sie leise, ohne aufzublicken.
Nach vierzig Minuten kehrte er zurück. Das Licht war schwächer geworden, und der Briefstapel neben Glory hatte sich erhöht. Doch sie saß noch so da, wie er sie verlassen hatte: den Kopf gebeugt, in den Händen einen Brief.
Mit der Ausnahme, dass ihre Schultern bebten und sie schluchzend atmete.
Sie weint.
„Glory?“ Er kam zu ihr.
Sie sah zu ihm auf, und ihr Kummer ging ihm zu Herzen. „Wie konnte sie nach diesen Briefen unnachgiebig bleiben? Wie konnte selbst meine Mutter so herzlos sein, so kalt und gnadenlos?“
„Ich weiß es nicht.“
Ihre Tränen fielen auf den Brief in ihrer Hand. Sie wischte ihn vorsichtig ab. „Wie … wie lange weißt du es schon?“
„Ich erfuhr es damals, als dein Vater starb. Lily hat es mir
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