Verbotene Früchte - Spindler, E: Verbotene Früchte
erzählt.“
Sie nickte, und ihre Lippen bebten. „Ich kenne meine Mutter überhaupt nicht, was? All die Jahre dachte ich … sie erzählte mir, meine Großeltern seien tot. Sie hat mich belogen.“ Glory schöpfte zittrig Atem. „Die ganze Zeit … hatte ich eine Großmutter.“
„Eine, die dich braucht.“ Santos ging neben ihr in die Hocke und nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. Ihre Tränen rollten zwischen seine Finger. „Alles, wonach sie sich sehnt, bist du und deine Mutter. Ich habe meinen Stolz geschluckt und deine Mutter gebeten, zu ihr zu kommen. Sie hat abgelehnt.“
„Ist meine … Ist Lily sehr krank?“
„Sie hatte einen schweren Herzinfarkt. Das Ausmaß der Schädigung kann man noch nicht feststellen, aber der Doktor ist nicht sehr optimistisch.“ Santos fasste fester zu. „Sie braucht dich. Wirst du mit mir kommen? Wirst du sie besuchen?“
Glory legte die Hände auf seine und sah ihn lange nur schweigend an. Dann nickte sie. „Bring mich zu meiner Großmutter.“
46. KAPITEL
Glory schaute auf die alte Frau, die blass in den Krankenhauslaken lag. Sie wirkte so zart und zerbrechlich, angeschlossen an Maschinen und Infusionen, dass Glory fürchtete, sie könne keiner Windböe trotzen.
Diese Frau, diese Fremde ist meine Großmutter.
Glory atmete tief durch, um ihrer Rührung Herr zu werden. Beinah hätte sie Lily verloren, ohne die Chance zu haben, sie kennen zu lernen.
Sie zog sich einen Stuhl ans Bett. Zögernd streckte sie eine Hand aus und legte sie auf Lilys. Deren Haut war wie Pergament, so dünn, dass Glory jede Vene sehen konnte. Doch die Hand war warm. Glory schloss die Finger darum. Das Leben pulsierte noch in Lily. Gott sei Dank.
Glory schluckte trocken. Sie fühlte sich benommen wie nach zu viel Alkohol. Sie konnte immer noch nicht ganz begreifen, was geschehen war, konnte immer noch nicht einordnen, was Santos ihr alles erzählt hatte.
Innerhalb von Minuten hatte sie erfahren, dass sie eine Familie und eine Geschichte hatte, die sie nie für möglich gehalten hätte. Prostituierte. Sie stammte von Frauen ab, die für Geld mit Fremden schliefen. Das war ein Schock. Sie erinnerte sich, mit zwölf oder dreizehn mit anderen Mädchen über das berüchtigte Pierron-Haus gekichert zu haben, über die Frauen, die dort lebten, und über das, was in seinen Mauern geschah. Eines der Mädchen hatte das Ganze als Karnickelstall verspottet.
Und diese Frauen waren ihre Familie gewesen, ein Teil von ihr. Sie gehörte zu diesem Haus.
Bewegt schloss sie die Finger fester um Lilys. In jenen Minuten hatte sie auch erfahren, dass ihre Mutter eine Lügnerin und Betrügerin war. Großer Gott, welche der Dinge, die ihre Mutter ihr über ihre Kindheit und Jugend erzählt hatte, entsprachen der Wahrheit? Stimmte da überhaupt etwas?
Tränen brannten ihr in den Augen. Die Großeltern, die sie aus Erzählungen zu kennen glaubte, gab es gar nicht. Die Geschichten, die ihre Mutter erzählt hatte, vom Aufwachsen in einem sonnigen Haus in Meridian, Mississippi, von Spaziergängen mit ihrem Daddy Hand in Hand, um sonntagnachmittags Eiscreme zu holen, von Weihnachtsabenden, die sie singend um den großen, selbst geschlagenen Baum herum verbracht hatten, das waren alles Lügen.
Verzweiflung und Panik wallten in ihr auf. Hier saß sie nun, hielt die Hand einer Fremden, die angeblich ihre Großmutter war, und wünschte und betete, dass sie nicht starb.
Glory presste die Augen zusammen, um die Tränen zu verdrängen. Wie hatte Hope das tun können? Wie hatte sie jahrelang alle Menschen, die ihr nahe standen, ihre gesamte Familie, belügen können?
Familie.
Glory musste an ihren Vater denken, welche Werte er ihr vermittelt hatte über Familie und Erbe. Dass sie ihre Identität aus ihrem Familiennamen und der Familiengeschichte schöpfe. Diese Dinge, hatte er gesagt, könnten ihr nie genommen, könnten nie ausgelöscht werden.
Doch Hope hatte es versucht. Mutter hat versucht, mir meine Identität zu stehlen.
Wer war Glory St. Germaine, wenn die Hälfte ihrer Familiengeschichte auf einer Lüge basierte, gar ein Geheimnis war?
Sie dachte an das River-Road-Haus, an den Geruch der Luft, an die Brise in den alten Eichen, an das Knarren der Bodendielen unter ihren Füßen, und sie musste schmunzeln. Sie hatte sich dort sofort behaglich gefühlt, als gehöre sie dorthin. Und das, noch ehe Santos auch nur ein Wort gesagt, ehe sie die Fotos gesehen und die Wahrheit erfahren hatte.
Das River-Road-Haus
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