Verbotener Kuss
Angriff nicht in Panik geraten, hätte ich den zweiten Daimon vielleicht vertreiben können. Ich hätte meine Mutter vor diesem furchtbaren Schicksal bewahren können.
Das schlechte Gewissen schlug mir auf den Magen und die Pizza stieß mir sauer auf. Ich stand auf und ging nach draußen. Gleichzeitig kam einer der Dienstboten herein, um für die Nacht abzuschließen. Auf dem Innenhof waren ein paar Kids unterwegs, aber niemand, den ich besonders gut kannte.
Keine Ahnung, warum ich mich schließlich im zentralen Trainingsraum wiederfand. Es war schon nach acht, aber diese Räume wurden nie abgeschlossen, und die Waffen brachte man nach dem Training in Sicherheit. Vor einem der Dummys, die für Messerübungen und gelegentlich für eine Boxrunde benutzt wurden, blieb ich stehen.
Zappelig und unruhig starrte ich die lebensähnliche Gestalt an. Winzige Scharten und Einkerbungen bedeckten Hals, Brust und Bauch. Das waren die Bereiche, auf deren Angriff die Halbblüter trainiert wurden: Solarplexus, Herz, Hals und Magengrube.
Ich fuhr mit den Fingern über die Vertiefungen. Die vom Covenant ausgegebenen Klingen waren höllisch scharf, denn sie waren dazu gemacht, die Haut des Daimons rasch zu durchdringen und größtmöglichen Schaden anzurichten.
Während ich die rot markierten Angriffsflächen betrachtete– Stellen, an denen ich im Nahkampf mit einem Daimon Schläge oder Tritte anbringen musste–, band ich mir das Haar zu einem unordentlichen Knoten hoch. Aiden hatte mir ein paarmal erlaubt, mit den Dummys zu üben. Wahrscheinlich weil er es leid war, meine Tritte abzukriegen.
Nach dem ersten Boxhieb, den ich dem Dummy versetzte, prallte er zwei, vielleicht auch fünf Zentimeter zurück. Schwach. Beim zweiten und dritten Schlag krachte er ein paar Zentimeter weiter zurück, brachte mir aber nichts. Der Strudel aus Emotionen in meinem Innern stieg hoch und forderte mich auf, dem Drang nachzugeben. Lenk ein!, schoss es mir noch durch den Kopf. Nimm Lucians Angebot an! Riskier auf keinen Fall, Mom gegenüberzutreten. Soll sich doch ein anderer damit befassen.
Ich trat zurück und legte die Hände auf die Oberschenkel.
Meine Mutter war ein Daimon. Als Halbblut war es meine Pflicht, sie zu töten. Als ihre Tochter war es meine Pflicht… was zu tun? Nach der Antwort hatte ich das ganze Wochenende gesucht. Was sollte ich tun?
Sie töten. Vor ihr weglaufen. Sie irgendwie retten.
Ein verzweifelter Aufschrei entfuhr mir. Ich holte mit dem Bein aus und traf den Dummy in der Mitte. Er schwang ungefähr einen halben Meter zurück, und als er wieder auf mich zusauste, attackierte ich ihn– mit Schlägen, Boxhieben und Tritten. Mit jedem Ausbruch wuchsen mein Zorn und meine Zweifel.
Ich konnte es nicht hinnehmen. Auf gar keinen Fall hinnehmen.
Schweiß lief mir über den Körper und durchnässte mein Shirt, bis es mir an der Haut klebte und lose Härchen im Nacken haften blieben. Ich konnte einfach nicht aufhören. Die Gewalttätigkeit brach aus mir heraus und war mit Händen zu greifen. Ich schmeckte den Zorn hinten am Gaumen, schwer und dick wie Galle. Er ergriff Besitz von mir. Ich wurde zu diesem Zorn.
Die Wut floss durch mich hindurch und in meine Bewegungen hinein, bis meine Tritte und Schläge so treffsicher wurden, dass sie einen echten Menschen getötet hätten. Erst dann war ich zufrieden, taumelte zurück, wischte mir mit der Hand über die Stirn und wandte mich um.
Aiden stand an der Tür.
Er kam näher, blieb in der Mitte des Raums stehen und nahm die gleiche Stellung ein wie während unseres Trainings. Er trug Jeans, eine Seltenheit bei ihm.
Aiden beobachtete mich schweigend. Ich hatte keine Ahnung, was er dachte und warum er hier war, aber es war mir auch gleichgültig. Immer noch kochte ich vor Wut. Irgendwie stellte ich mir vor, dass ein Daimon so empfinden musste– als lenke eine unsichtbare Macht jede Bewegung.
Ich war außer Kontrolle und hatte mittlerweile jede Beherrschung verloren. Ohne ein Wort verringerte ich den Abstand zwischen uns. Ein misstrauischer Ausdruck flackerte in seinen Augen auf.
Ohne Vorsatz, nur mit überwältigendem Zorn und frischem Schmerz holte ich aus und versetzte ihm einen rechten Haken. Meine Fingerknöchel schrien vor Schmerz auf.
» Verdammt! « Ich beugte mich vor und barg die Hand an der Brust. Dass es so wehtun würde, hatte ich nicht gedacht. Aber noch schlimmer war die Tatsache, dass ich kaum eine Wirkung bei ihm erzielt hatte.
Er wandte sich mir zu, als
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