Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
nicht. ›Edler‹, ›großmütiger‹ – das alles ist Unsinn, Dummheit, alte Vorurteile, die ich verneine! Alles, was der Menschheit nützlich ist, ist auch edel. Ich verstehe nur das eine Wort: nützlich ! Sie können kichern, soviel Sie wollen, aber es ist doch so!«
Pjotr Petrowitsch lachte auf. Er hatte sein Geld schon nachgezählt und steckte es eben ein. Ein Teil davon blieb aber aus unbekannten Gründen noch immer auf dem Tische liegen. Diese »Frage von den Mistgruben« hatte schon einigemal, trotz ihrer ganzen Abgeschmacktheit, Mißverständnisse und Entzweiungen zwischen Pjotr Petrowitsch und seinem jungen Freund zur Folge gehabt. Die ganze Dummheit lag darin, daß Andrej Ssemjonowitsch ernsthaft böse wurde, Luschin aber sich dessen freute; diesmal wollte er aber Lebesjatnikow ganz besonders ärgern.
»Sie sind nur infolge Ihres gestrigen Mißerfolgs so böse und herausfordernd«, platzte endlich Lebesjatnikow heraus, der im allgemeinen trotz seiner ganzen »Unabhängigkeit« und aller seiner »Proteste« nicht wagte, Pjotr Petrowitsch zu opponieren, und ihm gegenüber den aus früheren Jahren angewöhnten Respekt beobachtete.
»Sagen Sie mir besser,« unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch hochmütig und ärgerlich, »können Sie ... oder, besser gesagt, sind Sie mit der erwähnten jungen Person tatsächlich so intim bekannt, um sie sofort, für einen Augenblick zu mir in dieses Zimmer zu bitten? Mir scheint, sie sind schon alle vom Friedhof heimgekommen ... Ich höre sie dort herumgehen ... Ich muß sie sehen, ich meine diese junge Person.«
»Was brauchen Sie sie?« fragte Lebesjatnikow erstaunt.
»Ich muß sie sprechen. Heute oder morgen ziehe ich von hier aus und möchte ihr darum mitteilen ... Übrigens bitte ich Sie, während unserer Unterredung hierzubleiben. Es ist sogar besser so. Sonst wird man sich noch Gott weiß was denken.«
»Ich werde mir absolut nichts denken ... Ich habe nur so gefragt, und wenn Sie von ihr was wollen, so gibt es nichts Leichteres, als sie herkommen zu lassen. Ich gehe gleich hin, und Sie können überzeugt sein, daß ich nicht stören werde.«
Nach fünf Minuten kam Lebesjatnikow wirklich mit Ssonjetschka zurück. Sie trat äußerst erstaunt und wie immer sehr schüchtern ein. Sie war in solchen Fällen immer scheu und fürchtete alle neuen Menschen und neue Bekanntschaften; sie hatte sie schon als Kind gefürchtet, jetzt aber fürchtete sie sie mehr als je ... Pjotr Petrowitsch empfing sie »freundlich und höflich«, doch mit einem Anflug von einer lustigen Vertraulichkeit, die übrigens, seiner Meinung nach, einem so ehrenwerten und soliden Menschen im Verkehr mit einem so jungen und in gewisser Beziehung interessanten Wesen wie sie durchaus ziemte. Er beeilte sich, sie zu »ermutigen«, und bot ihr einen Stuhl am Tische ihm gegenüber an. Ssonja setzte sich, sah sich um, – sah auf Lebesjatnikow, auf das Geld, das auf dem Tische lag, und dann plötzlich wieder auf Pjotr Petrowitsch, von dem sie ihren Blick wie festgebannt nicht mehr wandte. Lebesjatnikow ging schon zur Tür, aber Pjotr Petrowitsch stand auf, forderte Ssonja durch einen Wink auf, sitzen zu bleiben, und hielt Lebesjatnikow an der Tür zurück.
»Ist Raskolnikow dort? Ist er schon gekommen?« fragte er ihn leise.
»Raskolnikow? Er ist schon dort. Warum fragen Sie? Ja, er ist schon dort. Soeben sah ich ihn kommen ... Warum?«
»Nun, dann bitte ich Sie ganz besonders, hier mit uns zu bleiben und mich mit diesem ... Fräulein nicht allein zu lassen. Die Sache ist ganz unbedeutend, aber man wird Gott weiß was sagen. Ich will nicht, daß Raskolnikow es dort erzählt ... Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich verstehe, ich verstehe!« rief Lebesjatnikow, dem plötzlich ein Licht aufging. »Ja, Sie haben recht ... Allerdings, Sie gehen nach meiner persönlichen Überzeugung in Ihren Befürchtungen viel zu weit, aber ... aber Sie haben doch ein Recht darauf. Ich bleibe gern hier. Ich will hier am Fenster stehen und werde nicht stören ... Meiner Ansicht nach haben Sie recht ...«
Pjotr Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, nahm Ssonja gegenüber Platz, sah sie aufmerksam an und setzte sich plötzlich eine außerordentlich solide und sogar etwas strenge Miene auf, als wollte er sagen: Bilde dir nur nichts ein, meine Liebe! – Ssonja verlor endgültig die Fassung.
»Erstens bitte ich Sie, Ssofja Ssemjonowna, mich bei Ihrer hochverehrten Frau Mama zu entschuldigen ... Es stimmt doch? Katerina Iwanowna
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