Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
Aus welchem Grunde sollte ich es vor Ihnen verheimlichen, ich bitte Sie? Im Gegenteil, es kommt mir selbst merkwürdig vor: mir gegenüber ist sie ganz besonders scheu, keusch und schamhaft!«
»Und Sie klären sie natürlich auf, he-he-he! Sie beweisen ihr, daß jede Schamhaftigkeit Unsinn ist? ...«
»Durchaus nicht! Durchaus nicht! Oh, wie roh, wie dumm sogar – verzeihen Sie mir – fassen Sie das Wort Aufklärung auf! Sie verstehen gar nichts! O mein Gott, wie ... unfertig Sie noch sind! Wir streben nach der Befreiung der Frau, und Sie haben bloß das eine im Sinn ... Indem ich die Frage von der Keuschheit und Schamhaftigkeit der Frau als von Dingen, die an und für sich nutzlos und auf Vorurteilen begründet sind, übergehe, lasse ich ihre Keuschheit im Verkehr mit mir gelten, denn darin liegt doch ihr Wille, ihr ganzes Recht. Natürlich, wenn sie mir selbst sagte: ›Ich will dich haben‹, so würde ich es für ein großes Glück halten, denn das junge Mädchen gefällt mir sehr gut; aber jetzt, jetzt wird sie wohl von niemand höflicher, respektvoller und mit größerer Achtung vor ihrer Würde behandelt als von mir ... ich warte und hoffe, und das ist alles.«
»Schenken Sie ihr doch lieber etwas. Ich wette, daß Sie daran noch gar nicht gedacht haben.«
»Nichts verstehen Sie, gar nichts, das habe ich Ihnen schon gesagt! Ihre Lage ist natürlich derart, aber hier ist auch eine andere Frage! Eine ganz andere! Sie verachten sie einfach. Indem Sie eine Tatsache sehen, die Sie fälschlicherweise für verachtungswürdig halten, versagen Sie einem menschlichen Wesen ein humanes Verhältnis zu ihm. Sie wissen noch nicht, was das für eine Natur ist! Ich ärgere mich nur sehr, daß sie in der letzten Zeit fast ganz aufgehört hat, zu lesen, und sich von mir keine Bücher mehr holt. Früher hat sie es getan. Es ist auch schade, daß sie bei all ihrer Energie und Entschlossenheit zu protestieren – die sie schon einmal bewiesen hat –, noch immer wenig Selbständigkeit und sozusagen Unabhängigkeit besitzt, wenig Verneinungsgeist, um sich von manchen Vorurteilen und ... Dummheiten ganz loszureißen. Obwohl sie manche Fragen sehr gut begreift. So hat sie zum Beispiel ausgezeichnet die Frage vom Handküssen erfaßt, das heißt, daß der Mann die Frau beleidigt, wenn er ihr die Hand küßt, da er damit auf die Ungleichheit der Geschlechter hinweist. Über diese Frage wurde bei uns debattiert, und ich teilte es ihr sofort mit. Auch meine Ausführungen über die Assoziationen der Arbeiter in Frankreich hörte sie mit großem Interesse an. Jetzt erörterte ich vor ihr die Frage vom freien Eintritt in jedes Zimmer in der künftigen Gesellschaft.«
»Was ist denn das?«
»In der letzten Zeit wurde über die Frage debattiert: ob ein Mitglied der Kommune das Recht habe, zu jeder Zeit in das Zimmer eines anderen Mitglieds, ganz gleich, ob eines Mannes oder einer Frau, einzutreten ... und es wurde beschlossen, daß es dieses Recht habe ...«
»Und wenn der oder die Betreffende in diesem Augenblick mit einer natürlichen Verrichtung beschäftigt ist He-he!«
Andrej Ssemjonowitsch wurde fast böse.
»Sie haben immer das eine im Sinn! Sie denken nur an diese verfluchten Verrichtungen!« schrie er gehässig. »Pfui, wie ärgere ich mich, daß ich, als ich Ihnen das System erklärte, so vorzeitig auf diese verfluchten Verrichtungen zu sprechen kam! Zum Teufel! Das ist immer der Stein des Anstoßes für alle Ihresgleichen! Das gemeinste ist, daß Sie darüber lachen, ehe Sie erfahren haben, worum es sich hier handelt. Als hätten Sie recht! Als wären Sie auf etwas stolz! Pfui! Ich habe schon einigemal behauptet, daß man diese ganzen Fragen den Neulingen erst am Schluß vorbringen darf, wenn sie von der Richtigkeit des Systems schon überzeugt sind, wenn der Mensch schon aufgeklärt ist und die richtige Tendenz hat. Sagen Sie mir, bitte, was finden Sie auch Beschämendes und Verachtungswürdiges zum Beispiel an einer Mistgrube? Ich bin als erster bereit, jede beliebige Mistgrube zu reinigen! Es ist auch nicht die geringste Selbstaufopferung dabei! Es ist einfach eine Arbeit, eine edle, für die Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder anderen Tätigkeit ebenbürtig ist und natürlich viel höher steht, als beispielsweise die Tätigkeit eines Raffael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.«
»Und edler, edler, he-he-he!«
»Was heißt edler? Ich verstehe solche Ausdrücke als Bewertung menschlicher Tätigkeit
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