Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
»Natürlich gleicht er gar nicht,« wandte sie sich scharf und laut, mit äußerst strenger Miene zu Amalia Iwanowna, so daß jene sogar erschrak, »gleicht er gar nicht Ihren aufgedonnerten Damen mit den langen Schleppen, die man bei meinem Papa nicht mal als Köchinnen aufgenommen hätte und denen mein verstorbener Mann, wenn er sie bei sich empfinge, nur aus seiner unerschöpflichen Güte diese Ehre erwiesen hätte.«
»Jawohl, der trank gern; ja, er liebte es, es kam vor«, rief plötzlich der verabschiedete Proviantbeamte, das zwölfte Glas Schnaps hinunterstürzend.
»Mein verstorbener Mann hatte allerdings diese Schwäche, und das ist allen bekannt«, fiel Katerina Iwanowna plötzlich über ihn her. »Aber er war ein guter und edler Mensch und liebte und achtete seine Familie; leider vertraute er sich in seiner Güte allerlei verdorbenen Menschen zu sehr an, und Gott allein weiß, mit wem er nicht alles getrunken hat; auch mit solchen, die seine Schuhsohle nicht wert waren! Denken Sie sich nur, Rodion Romanowitsch, in seiner Tasche fand man einen Hahn aus Pfefferkuchenteig; er geht bewußtlos betrunken nach Hause, denkt aber an seine Kinder.«
»Einen Ha-hn? Sie geruhten zu sagen: einen Ha-hn?« rief der Proviantbeamte.
Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie dachte über etwas nach und seufzte.
»Sie glauben wohl sicher wie alle, daß ich zu streng zu ihm war«, fuhr sie fort, sich an Raskolnikow wendend. »Es ist aber nicht richtig! Er achtete mich, er achtete mich sehr! Ein gutes Herz hat er gehabt! Und manchmal tat er mir so leid. Manchmal sitzt er da, sieht mich aus der Ecke an, und er dauert mich so, daß ich lieb zu ihm sein möchte; dann muß ich mir aber sagen: ›Ich bin lieb zu ihm, und er betrinkt sich gleich wieder‹. Nur durch Strenge konnte man ihn im Zaume halten.«
»Jawohl, es kam auch vor, daß er an den Haaren herumgezerrt wurde, das kam öfters vor«, brüllte der Proviantbeamte wieder und stürzte noch ein Glas Schnaps hinunter.
»Es wäre nützlich, manche Dummköpfe nicht nur an den Haaren herumzuzerren, sondern auch mit einem Besen zu behandeln. Ich spreche jetzt nicht von Verstorbenen!« fertigte Katerina Iwanowna den Proviantbeamten ab.
Die roten Flecke auf ihren Wangen glühten immer stärker, und ihre Brust hob und senkte sich. Sie war bereit, eine große Geschichte zu beginnen. Viele kicherten, vielen war es offenbar angenehm. Den Proviantbeamten reizte man auf und flüsterte ihm etwas zu. Offenbar wollte man sie aufeinander hetzen.
»Gestatten Sie die Frage, was Sie damit sagen wollten«, begann der Proviantbeamte. »Das heißt, auf wessen vornehmes Konto Sie eben ... Übrigens will ich nichts mehr sagen! Unsinn! Eine Witwe, eine arme Witwe! Ich verzeihe ... Ich passe!«
Und er trank wieder einen Schnaps.
Raskolnikow saß da und hörte schweigend und angewidert zu. Er berührte bloß aus Höflichkeit die Stücke, die ihm Katerina Iwanowna jeden Augenblick auf den Teller legte, und aß nur, um sie nicht zu kränken. Er beobachtete aufmerksam Ssonja. Ssonja wurde aber immer unruhiger und besorgter; auch sie ahnte, daß das Totenmahl kein gutes Ende nehmen werde, und verfolgte mit Angst die steigende Gereiztheit Katerina Iwanownas. Es war ihr unter anderem bekannt, daß der Hauptgrund, warum die beiden zugereisten Damen die Einladung Katerina Iwanownas so verachtungsvoll verschmäht hatten, an ihr selbst lag. Sie hatte von Amalia Iwanowna gehört, daß die Mutter die Einladung als Beleidigung aufgefaßt und die Frage gestellt hatte: »Wie könnte ich meine Tochter neben dieses Mädchen setzen?« Ssonja hatte das Gefühl, daß Katerina Iwanowna davon schon etwas wußte, aber eine Kränkung Ssonjas war für sie mehr als eine Kränkung ihrer selbst, ihrer Kinder, ihres Papas, mit einem Worte, es war für sie eine tödliche Kränkung, und Ssonja wußte, daß Katerina Iwanowna sich nicht eher beruhigen würde, als »bis sie diesen beiden langschleppigen Weibern bewiesen hätte, daß sie beide usw.« Wie absichtlich schickte in diesem Augenblick jemand vom anderen Ende des Tisches Ssonja einen Teller mit zwei aus Schwarzbrot gekneteten, von einem Pfeil durchbohrten Herzen. Katerina Iwanowna fuhr auf und bemerkte sofort laut, daß der Absender natürlich ein »betrunkener Esel« sei. Auch Amalia Iwanowna ahnte etwas Schlimmes; durch den Hochmut Katerina Iwanownas aufs tiefste gekränkt, begann sie ganz unvermittelt, um die unangenehme Stimmung der Gesellschaft
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