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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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Stich gelassen und wäre weggegangen, aber in diesem Moment war es fast unmöglich; dies hieße, die Richtigkeit der gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen anzuerkennen und zu gestehen, daß er Ssofja Ssemjonowna wirklich verleumdet hatte. Außerdem war das Publikum, das schon ohnehin etwas angetrunken war, allzu aufgeregt. Der Proviantbeamte, der übrigens nicht alles verstand, schrie mehr als alle und schlug gewisse für Luschin recht unangenehme Maßregeln vor. Manche waren aber nicht betrunken; aus allen Zimmern kamen Leute herbei. Alle drei Polen regten sich furchtbar auf, schrien in einem fort: »Der Pan ist ein Schuft!« und murmelten noch allerlei Drohungen auf polnisch. Ssonja hörte gespannt zu, schien aber nicht alles zu verstehen, als erwache sie aus einer Ohnmacht. Sie wandte nur ihre Augen nicht von Raskolnikow, da sie fühlte, daß er ihr einziger Schutz war. Katerina Iwanowna atmete schwer und heiser und schien furchtbar erschöpft. Am dümmsten stand Amalia Iwanowna da, mit offenem Munde, ohne etwas zu verstehen. Sie sah nur, daß Pjotr Petrowitsch irgendwie hereingefallen war. Raskolnikow bat wieder ums Wort, man ließ ihn aber nicht zu Ende sprechen: alle schrien und drängten sich um Luschin mit Schimpfworten und Drohungen. Aber Pjotr Petrowitsch wurde nicht bange. Als er sah, daß die Sache mit der Beschuldigung Ssonjas unrettbar verloren war, wurde er einfach frech:
    »Erlauben Sie, meine Herrschaften, erlauben Sie, drängen Sie sich nicht, lassen Sie mich durchgehen!« sagte er, indem er sich einen Weg durch die Menge bahnte. »Und tun Sie mir den Gefallen, drohen Sie nicht. Ich versichere Ihnen, daraus wird nichts, Sie werden nichts erreichen, ich gehöre nicht zu den Feigen, im Gegenteil, meine Herrschaften, Sie werden es noch zu verantworten haben, daß Sie eine Kriminalsache gewaltsam vertuscht haben. Die Diebin ist mehr als überführt, und ich werde sie belangen. Und vor Gericht ist man nicht so blind und ... nicht betrunken, und wird nicht zwei abgefeimten Atheisten, Aufrührern und Freigeistern glauben, die mich aus persönlicher Rachsucht beschuldigen, was sie in ihrer Dummheit auch selbst zugeben ... Ja, erlauben Sie doch!«
    »Räumen Sie sofort mein Zimmer! Wollen Sie sofort ausziehen, und zwischen uns ist alles aus! Wenn ich bloß bedenke, wie ich mich bemühte, wie ich ihm alles erklärte ... ganze zwei Wochen! ...«
    »Ich habe Ihnen auch selbst vorhin gesagt, Andrej Ssemjonowitsch, als Sie mich zurückzuhalten versuchten, daß ich ausziehe; jetzt füge ich dem noch hinzu, daß Sie ein Dummkopf sind. Ich wünsche Ihnen eine Gesundung Ihres Verstandes und Ihrer blinden Augen. Erlauben Sie doch, meine Herrschaften!«
    Er drängte sich durch; aber der Proviantbeamte wollte ihn nicht so einfach, bloß mit Schimpfworten beladen, abziehen lassen; er nahm ein Glas vom Tisch, holte aus und schleuderte es gegen Pjotr Petrowitsch; aber das Glas flog direkt auf Amalia Iwanowna. Sie kreischte auf, aber der Proviantbeamte verlor, als er zum Wurfe ausholte, das Gleichgewicht und fiel schwer unter den Tisch. Pjotr Petrowitsch begab sich auf sein Zimmer, und nach einer halben Stunde war er nicht mehr im Hause. Sjonja, die von Natur schüchtern war, wußte es schon früher, daß man sie leichter als jeden anderen Menschen zugrunderichten konnte und daß sie jeder fast straflos beleidigen durfte. Und doch hatte sie bis zu diesem Augenblick geglaubt, daß sie jedem Unheil durch Vorsicht, Sanftmut und Demut vor jedem Menschen entgehen könnte. Ihre Enttäuschung war darum allzu schwer. Sie konnte natürlich mit Geduld und fast ohne zu murren alles, selbst dieses ertragen. Aber im ersten Augenblick war es ihr doch zu schwer. Trotz ihres Triumphes und ihrer Rechtfertigung, – als der erste Schreck und die erste Erstarrung vorüber waren, als sie alles klar erkannt und begriffen hatte, krampfte sich ihr Herz vor Hilflosigkeit und Kränkung schmerzhaft zusammen. Sie bekam einen hysterischen Anfall. Schließlich hielt sie es nicht aus, stürzte aus dem Zimmer und rannte nach Hause. Dies geschah, gleich nachdem Luschin fortgegangen war. Als das Glas unter dem lauten Lachen der Anwesenden Amalia Iwanowna traf, wurde es ihr doch zu bunt. Wie wahnsinnig kreischend, stürzte sie auf Katerina Iwanowna zu, der sie die Schuld an allem zuschob.
    »Hinaus aus der Wohnung! Sofort! Marsch!«
    Mit diesen Worten fing sie an, alle Sachen Katerina Iwanownas, die ihr unter die Hände kamen, auf den Boden zu werfen.

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