Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)
mit gekreuzten Armen, traurig und nachdenklich im Zimmer auf und ab ging, müßte man ihn entschuldigen, auch abgesehen von seinem exzentrischen Zustande. Awdotja Romanowna war ungewöhnlich hübsch: großgewachsen, ungewöhnlich schlank, kräftig und selbstbewußt, – was sich in jeder ihrer Gebärden zeigte, aber ihre Bewegungen durchaus nicht der Weichheit und Grazie beraubte. Im Gesicht ähnelte sie dem Bruder, man konnte sie aber eine Schönheit nennen. Ihr Haar war dunkelblond, ein wenig heller als das des Bruders, die Augen fast schwarz, funkelnd und stolz, zugleich aber zuweilen ungewöhnlich gütig. Sie war bleich, aber nicht krankhaft bleich; ihr Gesicht leuchtete vor Frische und Gesundheit. Der Mund war etwas klein, die frische und rote Unterlippe stand eine Kleinigkeit her vor, ebenso das Kinn, – die einzige Unregelmäßigkeit in diesem schönen Gesicht, die ihm dafür etwas sehr Charakteristisches, vielleicht etwas Hochmütiges verlieh. Ihr Gesichtsausdruck war immer mehr ernst als heiter und meistens nachdenklich; wie gut stand dafür ein Lächeln diesem Gesicht, wie gut stand ihr das lustige, junge, sorglose Lachen! Es ist darum begreiflich, daß der hitzige, offenherzige, etwas einfältige, ehrliche, riesenstarke und zugleich betrunkene Rasumichin, der in seinem Leben nichts dergleichen gesehen hatte, gleich beim ersten Blick den Kopf verlor. Außerdem wollte es der Zufall, daß er Dunja zum erstenmal im schönen Augenblick der Liebe und der Freude des Wiedersehens mit dem Bruder sah. Er sah, wie ihre Unterlippe vor Empörung über die frechen und undankbar grausamen Zumutungen des Bruders gezuckt hatte, – und konnte nicht widerstehen.
Übrigens hatte er vorhin die Wahrheit gesagt, als er in seiner Trunkenheit auf der Treppe schwatzte, daß die exzentrische Wirtin Raskolnikows, Praskowja Pawlona, auf ihn nicht bloß wegen Awdotja Romanowna, sondern auch vielleicht wegen Pulcheria Alexandrowna selbst eifersüchtig sein würde. Obwohl Pulcheria Alexandrowna schon dreiundvierzig Jahre alt war, zeigte ihr Gesicht noch immer die Reste der einstigen Schönheit; außerdem sah sie viel jünger aus, als sie war, was fast immer bei Frauen, die die Klarheit des Geistes, die Frische der Eindrücke und ein ehrliches, reines Feuer des Herzens bis zum Alter bewahrt haben, der Fall ist. Wir wollen in Parenthese noch bemerken, daß dies alles zu bewahren das einzige Mittel ist, seine Schönheit auch im Alter nicht zu verlieren. Ihr Haar hatte schon angefangen, grau und dünn zu werden, um ihre Augen herum hatten sich schon längst kleine strahlenartige Runzeln gebildet, die Wangen waren eingefallen und vor Kummer und Sorgen eingetrocknet, und doch war dieses Gesicht schön. Es war ein Bildnis Dunjetschkas, wie sie nach zwanzig Jahren aussehen würde, abgesehen vom Ausdrucke der Unterlippe, die bei ihr nicht hervorstand. Pulcheria Alexandrowna war empfindsam, doch nicht süßlich, sie war scheu und nachgiebig, doch nur bis zu einer gewissen Grenze; sie konnte in vielen Dingen nachgeben, auf vieles eingehen, selbst auf Dinge, die ihren Überzeugungen widersprachen, aber es gab immer eine gewisse Grenze der Ehrlichkeit, Moral und äußerster Überzeugung, die zu überschreiten sie keinerlei Umstände hätten zwingen können.
Genau zwanzig Minuten nach Rasumichins Verschwinden ertönten zwei leise, doch hastige Schläge an der Tür; er war zurückgekehrt.
»Ich komme gar nicht herein, ich habe keine Zeit!« teilte er hastig mit, als man die Tür öffnete. »Er schläft wie ein Murmeltier, vorzüglich, ruhig, und gebe Gott, daß er noch zehn Stunden schläft. Nastasja sitzt bei ihm; ich befahl ihr, nicht wegzugehen, bis ich zurückkomme. Jetzt schleppe ich den Sossimow her, er wird Ihnen Bericht erstatten, und dann können Sie sich schlafen legen; Sie sind, wie ich sehe, bis zum äußersten erschöpft ...«
Und er lief wieder durch den Korridor zurück.
»Was für ein flinker ... und ergebener junger Mann!« rief Pulcheria Alexandrowna außerordentlich erfreut.
»Scheint wirklich ein netter Mensch zu sein!« antwortete Awdotja Romanowna mit einer gewissen Erregung und schickte sich wieder an, im Zimmer auf und ab zu gehen.
Fast nach einer Stunde hörte man Schritte auf dem Korridor und ein neues Klopfen an der Tür. Die beiden Frauen warteten, diesmal vollkommen dem Versprechen Rasumichins vertrauend; und er hatte in der Tat den Sossimow mitgeschleppt. Sossimow war sofort einverstanden gewesen, die Zecherei zu
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