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Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)

Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)

Titel: Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij
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... Ubrigens habe ich es gar nicht vorausgeahnt, denn Sie sind wie vom Himmel gefallen. Vielleicht werde ich diese ganze Nacht gar nicht schlafen ... Dieser Sossimow fürchtete vorhin, daß er verrückt werden könnte ... Darum darf man ihn eben nicht reizen ...«
    »Was sagen Sie!« rief die Mutter aus.
    »Hat es der Arzt wirklich gesagt?« fragte Awdotja Romanowna erschrocken.
    »Er hat es wohl gesagt, aber das ist es nicht. Er hat ihm auch so eine Arznei gegeben, ein Pulver, ich sah es, und da sind Sie gekommen ... Ach! ... Wären Sie doch lieber morgen gekommen! Es ist gut, daß wir weggegangen sind! Nach einer Stunde wird Ihnen Sossimow selbst Bericht erstatten. Er ist gar nicht betrunken! Auch ich werde nicht mehr betrunken sein ... Warum habe ich mich bloß so betrunken? Weil diese Verfluchten mich in den Streit hereingezogen haben! Ich habe das Gelübde geleistet, nicht mehr zu streiten! ... So einen Unsinn schwatzen Sie zusammen! Beinahe hätte ich mich mit ihnen geprügelt! Ich habe ihnen meinen Onkel als Präsidenten zurückgelassen ... Nun, können Sie es glauben: sie verlangen nach völliger Unpersönlichkeit und finden darin den richtigen Geschmack! Der Mensch soll nur nicht er selbst sein, soll möglichst wenig sich selbst ähnlich sehen, das halten sie für den größten Fortschritt. Und wenn sie wenigstens aus dem eigenen lügen wollten, sie aber ...«
    »Hören Sie mal«, unterbrach ihn schüchtern Pulcheria Alexandrowna, aber das brachte ihn noch mehr in Feuer.
    »Ja, was glauben Sie denn?« schrie Rasumichin, die Stimme noch mehr erhebend: »Sie glauben wohl, ich bin Ihnen böse, weil Sie lügen? Unsinn! Ich liebe es, wenn die Menschen lügen. Das Lügen ist das einzige menschliche Privilegium vor allen anderen Organismen. Wenn man lügt, gelangt man zur Wahrheit! Ich bin darum auch Mensch, weil ich lüge. Man hat noch keine einzige Wahrheit erreicht, ohne daß man vorher vierzehn und vielleicht auch hundertvierzehnmal gelogen hat, und das ist in seiner Art ehrenvoll; wir verstehen aber nicht mal auf eigene Art zu lügen! Lüge, so viel du willst, aber lüge auf deine eigene Art, und ich werde dich dafür küssen. Auf eigene Art zu lügen, ist beinahe besser, als die Wahrheit einem anderen nachzuplappern; im ersten Falle bist du ein Mensch, im letzteren aber bloß ein Vogel! Die Wahrheit wird nicht entrinnen, wie leicht kann man aber sein Leben vernageln; es hat auch schon solche Fälle gegeben. Nun, was sind wir jetzt? Wir alle ohne Ausnahme sitzen in bezug auf Wissenschaft, Entwicklung, Denken, Erfindungsgeist, Ideale, Streben, Liberalismus, Vernunft, Erfahrung und alles, alles, alles erst in der Vorbereitungsklasse eines Gymnasiums! Es gefällt uns so gut, mit fremdem Verstand zu leben, und wir sind es schon gewöhnt! Ist es nicht so? Hab ich nicht recht?« schrie Rasumichin, die Hände der beiden Damen zusammendrückend und schüttelnd: »Ist es nicht so?«
    »Mein Gott, ich weiß es nicht!« versetzte die arme Pulcheria Alexandrowna.
    »Ja, es ist so ... obwohl ich mit Ihnen nicht in allem einverstanden bin«, fügte Awdotja Romanowna ernst hinzu und schrie im gleichen Augenblick auf: so fest hatte er ihr diesmal die Hand zusammengepreßt.
    »Ja? Sie sagen: ja? Nun, in diesem Falle sind Sie ... sind Sie ...« schrie er entzückt, »eine Quelle der Güte, der Reinheit, der Vernunft und ... der Vollkommenheit! Geben Sie mir Ihre Hand, geben Sie sie ... geben auch Sie die Ihrige, ich will Ihre Hände küssen, hier gleich, auf den Knien!«
    Und er kniete mitten auf dem Trottoir nieder, das jetzt glücklicherweise menschenleer war.
    »Hören Sie auf, ich bitte Sie, was machen Sie?« rief die aufs höchste beunruhigte Pulcheria Alexandrowna.
    »Hören Sie auf, hören Sie auf!« rief auch Dunja lachend, doch besorgt.
    »Um nichts in der Welt, wenn Sie mir Ihre Hände nicht geben! Ja, so! Und jetzt ist's genug, ich bin aufgestanden, und wir wollen weitergehen! Ich bin ein unglücklicher Narr, ich bin Ihrer unwürdig, ich bin betrunken und schäme mich ... Sie zu lieben, bin ich nicht wert, doch vor Ihnen niederzuknien – das ist die Pflicht eines jeden, der kein vollkommenes Vieh ist. Ich bin auch in die Knie gesunken ... Da sind auch schon Ihre möblierten Zimmer, und Rodion hat schon darum allein recht gehabt, als er gestern Ihren Pjotr Petrowitsch hinauswarf! Wie wagte er es, Sie in solchen Zimmern unterzubringen? Das ist ein Skandal! Wissen Sie, wer hier aus und eingeht? Sie sind ja eine Braut!

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