Verbrecher und Versager.
nicht. Sie sind, wie im Schlepptau die Biographien, immer erfunden. Dieser Glaube, ein Mensch träte uns plötzlich als Ganzes entgegen. Als wäre es wirklich interessant, wer oder was jemand ist. Nur im Verhältnis der Menschen zueinander lässt sich Kontur erkennen, die Ahnung eines Zusammenhangs. Wie sich jemand bewegt, wie er sein Bein nach links oder rechts wirft, überraschend den Absatz verliert, sich plötzlich fahrig zur Flucht fertig macht, dabei mit den Armen rudert und schüchtern die Hand nach uns ausstreckt. Verschrobenes Winken der Seefahrer, Soldaten, Bergsteiger und Forscher, halb Begrüßung, halb Abschied. Eine Hälfte im Wasser, die andere an Land, eine dritte, wenn es sie geben könnte, am Rand eines Kraters. Weshalb ich, was Junghuhn betrifft, nichts als eine flüchtige Bekanntschaft bin, eine Nebensache des Lebens, zwei Augen auf einem Nebengleis durch den Tunnel eines mir fremden Schädels.
Aber ich beginne mich zu verzetteln. Ich habe versprochen, von vorn zu beginnen, indem ich erzähle, wie Junghuhn auf meinem Balkon erscheint. Bärtig und flüchtig, wie immer schlecht zugeknöpft, halb schön und halb stattlich und von der nachlässigen Abendsonne so günstig beleuchtet, dass kaum auffällt, dass er ein Deutscher ist. Aber die Ordnung von Fakten bringt die Menschheit wenig voran in ihrem sturen Verhältnis zur Welt. Ich persönlich glaube an Gott, während Junghuhn die Pflanzen vorzieht. Er hat mich wegen dieses Unterschieds nie lächerlich gemacht. Nicht aus Großzügigkeit, sondern aus Gleichgültigkeit, er ist weder an Überzeugungen noch an Meinungen interessiert, sondern an Ergebnissen, an der Sammlung dessen, was aus der unablässigen Bewegung des menschlichen Körpers bergauf und bergab resultiert.
Die Koffer sind deshalb auch schwer wie Blei. Aber Koffer sind Frauensache, und Junghuhn hält nichts von Frauensachen. Genauso wenig von Trägern, die in der Sommerhitze von Java seine Ausrüstung die Berge hinaufschleppen müssen, um sie schließlich erschöpft am Rand eines Kraters abzusetzen, der unberechenbar Feuer und Steine spuckt. Schwer zu sagen, was sie mehr entsetzt, der glühende Berg, die fliegenden Steine oder die haltlose Tatkraft, die ihre Angst auf unheimliche Weise verdoppelt. Weshalb sie unterwegs wieder und wieder versuchen, ihm zu entwischen, auf halber Strecke im Gras liegen bleiben, rücklings die einen, bäuchlings die anderen, die Gesichter in die Schatten der Koffer geschmiegt und Blätter zu kleinen Zigarren gerollt, in der Hoffnung auf Wind und den siebten Tag, der in ihrer Zeitrechnung nicht vorkommt.
Sie im Schatten, ich auf meinem Balkon, zwischen uns nichts als das Meer und sein Ehrgeiz, wird keiner von uns ihn begreifen, seinen übermächtigen Wunsch nach Flucht und Erkenntnis. Ich bin klimaunkundig, weiß nichts von Tropensonne, nichts von Helmen, Kisten und Trägern, nichts von Steinen und Pflanzen. Ich lege keine Kataloge an, aber ich habe alle Zettel gesammelt, die meine Besucher in den letzten Jahren auf meinem Küchentisch liegen ge- lassen haben und auf denen deutlich zu lesen steht, was ich aufschreiben müsste. Gesetzt den Fall, ich wäre dem Mann gewachsen.
Franz Wilhelm Junghuhn, geboren in Mansfeld, damals Preußen, heute im Ostharz. Der Vater Barbier. Ein Bergchirurgius zweiter Klasse, mehr Handwerk als Stand, nicht wirklich ein Arzt, weshalb der Sohn ein richtiger Arzt werden soll. Der Sohn soll werden, was der Vater nicht ist. Denn Vater und Sohn sind dieselbe Figur, zwei Seiten ein und derselben Medaille, einer der andere, der andere der eine, dasselbe Gesicht und dieselbe Verachtung, derselbe Zorn und dieselbe Strenge, dieselbe Sehnsucht und Leidenschaft. Nur ist ihr Ehrgeiz verschieden gerichtet. Der des Vaters auf Menschen und preußischen Ruhm, der des Sohns auf Ferne und Abenteuer, der des Vaters auf häuslichen Gottesdienst, der des Sohns auf den Dienst in der freien Natur und darauf, den Vater zur Strecke zu bringen, um endlich allein zu sein auf der Welt.
Also geht Junghuhn auf Reisen. Doch in jeder Falte des Reisemantels steckt der Vater samt Drohung, Gesicht und Befehl. Er ist zäh und beharrlich, läuft immer mit zwischen Sohle und Schuh. Nachts liegt er unter derselben Decke, spielt Botschaft und Traum und flüstert leise, mein Sohn, ein Flüchtling, mein Sohn, ein Versager. Tags macht sich der Vater im Rucksack so breit, dass das Vorankommen noch mühsamer wird. Denn wer trägt rückwärts den Vater über die Berge und
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