Verbrecher und Versager.
schleiche ich mich die Treppe hinunter, im Flur der alte vertraute Geruch, ich lege mein Ohr an die Tür und lausche. Auf das Klappern der Würfel, das Schlagen der Karten, schleppende Schritte vom Sessel zum Tisch, vom Tisch zum Fenster, vom Fenster zur Tür, Kronenbitter ist wieder zuhause! Und wenn ich mich hinter das Schlüsselloch knie, erkenne ich auch den lachhaften Zopf, das kindische Kinn, die vertraute Mischung aus Tinte und Pferd. In der Mitte des Tisches den Kindskopf von Kapf, von dem niemand weiß, wo sein Körper steckt und wie er den Schuldschein begleichen will. Sein katholischer Gott weiß es aber schon jetzt, der weiß mehr als die Rädelsführer zusammen, die mit Karten und Würfeln Wetten abschließen, zehn Augen, und der Kopf gehört mir.
Roller setzt auf den Tod durch die Mücke, Spiegelberg auf den Tod durch Verschwinden, noch bevor Kapf den Friedhof der Deutschen erreicht. Schwarz bringt die Limonade ins Spiel, das alte Rezept einer englischen Lady, das Gift eines Mädchens aus Afrika, vierzehn und billig, schön und sehr stumm, weshalb sie die Lust am Beten verlor und stattdessen ihrem Herrn dabei half, sich ein für allemal wegzutrinken, dorthin, wo sich keiner bekehren lässt.
Was die Geschichte wirklich enthält? Alles würde ich Ihnen verraten, für den Fall, ich könnte die Handschrift entziffern, doch hier wird mit Wein, nicht mit Tinte geschrieben, und wenn ich entschlossen die Tür aufstoße, damit wir endlich an Frischluft kommen, fällt wieder alles in sich zusammen. Kartenspieler nach Mitternacht, sterbende zappelnde Fische an Land, die immer noch auf eine Welle warten, die ihnen beibringt, wie man hier schwimmt.
Aber liebe Frau Vischer. Das wissen sie doch. Untermieter können nicht schwimmen. Weder Schiller noch Kapf noch Kronenbitter, der genau weiß, wie schlecht die Uniform trägt und wie leicht man das Wasser mit Festland verwechselt, wenn die Dunkelheit protestantisch wird. Weshalb er fast gar nicht nachhelfen musste, um Kapf zu zeigen, wie man entwischt. Am Ende legt jeder Hand an sich selbst, wie das zuhause so üblich ist. Hoch zu Ross und im Reden voran, bis der Mund sich langsam mit Wasser füllt, sechs heilige Vornamen und ein Degen im Mantel, mit dem Kapf die Wellen in Stücke schlägt, vier, schreit er, sind doch viel schöner als zwei, bis sein Kopf endlich zwischen den Wellen verschwindet.
Am Ufer steht immer noch Kronenbitter, neben sich seine Nichtschwimmerehre, hinter sich Kapfs verkaufte Braut, die keinen Moment daran denkt zu beten. Verlegen beklopft er die Uniform, dann bückt er sich nach dem Kartenkönig, der zwischen die Planken gefallen ist und wischt sich über die Augen. Vielleicht will er winken und weiß nur nicht wie, dann gibt er sich einen entschlossenen Ruck, schiebt sich den König hinters Revers und legt sich die flache Hand an die Stirn, damit auch Schiller endlich begreift, dass seinem Zwilling nicht mehr zu helfen ist.
Eis und Schnee
F RANZ W ILHELM J UNGHUHN
(1809-1864)
D iesmal komme ich mit! Ich habs versprochen und
halte mich dran. Aber als ich die Koffer anhob, fand ich sie schwer, alles gefüllt mit Arbeit und Flucht, wir werden nicht weit damit kommen. Junghuhn schweigt, und ich spreche weiter, denn die Stille zwischen Menschen ertrage ich nicht, weshalb ich immer zurückbleiben muss zwischen Eifer und Einwand.
Wie Junghuhn verstehe ich nichts von den Menschen. Ich habe die letzten Jahre im fünften Stock einer Großstadt verbracht, während Junghuhn sich in den Tropen herumtreibt, Vulkane besteigt und Pflanzen sammelt, ganze Koffer voller Pflanzen, um sie später entschlossen in Bücher zu binden. Ganze Bände hat er gestopft mit dem Sprechen über Pflanzen und Steine, mit der unermüdlichen Taufe dessen, was vorher namenlos war. Als wäre er Gott und nur mit Erschaffen und Benennen beschäftigt. Nur von Menschen kein Wort, auch am siebten Tag keine Spur. Junghuhn kennt keine Sonntage, und wenn er einmal, alle zehn Jahre, als Gast auf meinem Balkon erscheint, kommt mit brennendem Eifer nichts anderes zur Sprache als die Überflüssigkeit der Menschen in der Natur. Wer als Erster den Blick in den Krater wagt, muss auf kunstlose Art verstummen.
Aber ich beginne mich zu verzetteln. Denn in Wahrheit kommt es auf Tatkraft an, nicht auf Rekonstruktion, weil sich bei näherem Hinsehen als sinnlos erweist, aus Papierfetzen, flüchtigen Hinweisen und unscharfen Fotografien einen Charakter zu rekonstruieren. Charaktere existieren
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