Verdammnis
Mordes bezichtigen.
Er hatte sie während der Vergewaltigung beinahe erstickt, als er ihr in seiner Erregung ein Kissen aufs Gesicht drückte. Mittlerweile wünschte er, er hätte es getan.
Sie würden nicht begreifen, dass sie die ganze Zeit ein Spiel gespielt hatte. Sie hatte ihn provoziert, mit ihren niedlichen Kinderaugen geklimpert und ihn mit einem Körper verführt, der aussah wie der einer Zwölfjährigen. Sie hatte sich von ihm vergewaltigen lassen. Es war alles ihre Schuld. Sie würden nie verstehen, dass sie in Wirklichkeit ein Theaterstück inszeniert hatte. Sie hatte geplant …
Wie auch immer er vorgehen wollte, als Erstes musste er in Besitz dieses Films kommen und sich vergewissern, dass keine Kopien existierten. Das war der Kern seines Problems.
Ganz zweifellos musste sich eine Hexe wie Lisbeth Salander im Laufe der Jahre eine gewisse Anzahl an Feinden geschaffen haben. Rechtsanwalt Bjurman hatte ihnen jedoch etwas voraus. Im Gegensatz zu allen anderen, die aus dem einen oder anderen Grund wütend auf sie waren, besaß er nämlich uneingeschränkten Zugang zu all ihren Krankenakten, Sozialarbeiterberichten und psychiatrischen Gutachten. Er war einer der wenigen Menschen in Schweden, der ihre innersten Geheimnisse kannte.
Der Bericht, den ihm das Vormundschaftsgericht gegeben hatte, als er den Auftrag annahm, ihr Betreuer zu werden, war kurz und übersichtlich gewesen - knapp fünfzehn Seiten, die hauptsächlich ihr Leben im Erwachsenenalter behandelten, eine Zusammenfassung der Diagnose, die die Rechtspsychiatrie gestellt hatte, der Gerichtsbeschluss, mit dem ein Betreuer für sie bestellt worden war, und ein Überblick über ihre Finanzen im vorangegangenen Jahr.
Er las die Zusammenfassung immer wieder durch. Danach begann er systematisch, Informationen über Lisbeth Salanders Vergangenheit zu sammeln.
Als Rechtsanwalt wusste er sehr gut, wie er es anstellen musste, Informationen aus öffentlichen Registern zu bekommen. In seiner Eigenschaft als ihr Betreuer hatte er auch keine Probleme mit der Vertraulichkeit ihrer Krankenakte. Er war einer der wenigen Menschen, der sich buchstäblich jedes Dokument beschaffen konnte, das mit Lisbeth Salander zu tun hatte.
Trotzdem hatte es Monate gedauert, bis er ihr Leben Detail für Detail zusammengesetzt hatte, von den frühesten Aufzeichnungen aus der Grundschule über Berichte von Sozialarbeitern bis hin zu polizeilichen Ermittlungen und Gerichtsprotokollen. Er hatte Dr. Jesper H. Löderman, den Psychiater, der zu ihrem 18. Geburtstag ihre Einweisung in eine psychiatrische Klinik empfohlen hatte, persönlich aufgesucht und mit ihm über Lisbeth geredet. Jedermann war ihm behilflich. Eine Frau vom Sozialamt hatte ihn sogar dafür gelobt, dass er ein so außergewöhnliches Engagement dabei zeigte, alle Aspekte von Lisbeth Salanders Leben kennenzulernen.
Als echte Goldgrube erwiesen sich zwei gebundene Notizbücher in einem Karton, der bei einem Sachbearbeiter im Vormundschaftsgericht Staub ansetzte. Diese Notizbücher stammten von Bjurmans Vorgänger, dem Rechtsanwalt Holger Palmgren, der Lisbeth Salander anscheinend besser kennengelernt hatte als irgendjemand sonst. Palmgren hatte jedes Jahr gewissenhaft einen kurzen Bericht für den Ausschuss abgegeben, doch Bjurman vermutete, dass Lisbeth nichts davon ahnte, dass ihr ehemaliger Betreuer in Form von Tagebucheinträgen auch eifrig seine eigenen Gedanken zu ihrem Fall festgehalten hatte. Es handelte sich offensichtlich um Palmgrens eigenes Arbeitsmaterial, und als er vor zwei Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte, waren die Kladden beim Vormundschaftsgericht gelandet, wo sie bis zu diesem Moment keiner aufgeschlagen und gelesen hatte.
Es war das Original. Es gab keine Kopie.
Perfekt.
Palmgren zeichnete ein völlig anderes Bild von Lisbeth Salander als das, welches man den Berichten der Sozialarbeiter entnehmen konnte. Er beschrieb ihren mühseligen Weg vom schwierigen Teenager bis zur jungen Frau und Angestellten des Sicherheitsberatungsunternehmens Milton Security - ein Job, den sie durch Palmgrens Kontakte bekommen hatte. Mit steigender Verwunderung war Bjurman klar geworden, dass Lisbeth Salander keineswegs eine zurückgebliebene Mitarbeiterin der Poststelle gewesen war, die man mit Kopierarbeiten und Kaffeekochen betraute, sondern eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt hatte, in deren Rahmen sie für Miltons Geschäftsführer Dragan Armanskij Informationen zum Hintergrund bestimmter Personen
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