Verdammnis
Sozialbehörde geholt hatte. Aber als er versuchte, dieses Schriftstück zu bestellen, stieß er auf Widerstand. Die Ermittlungen trugen einen »Geheim«-Stempel Seiner Königlichen Majestät höchstpersönlich. Er konnte also nur an höchster Stelle Einsicht in die Akten fordern.
Nils Bjurman war völlig verblüfft. Dass polizeiliche Ermittlungen, die sich mit einer Zwölfjährigen befassten, der Geheimhaltung unterlagen, war an und für sich nicht überraschend - die Integrität des Kindes wurde eben geschützt. Doch er war Lisbeth Salanders gesetzlich bestellter Betreuer und hatte das Recht, Einsicht in jedes Dokument zu fordern, das sie betraf. Es ging ihm nicht in den Kopf, warum er sich an die Regierung wenden musste, um die Unterlagen einsehen zu können.
Er reichte sofort ein Gesuch ein. Nach zwei Monaten wurde es bearbeitet. Zu seiner aufrichtigen Verblüffung wurde es abgelehnt. Es war ihm unbegreiflich, was an bald fünfzehn Jahre zurückliegenden Ermittlungen zu einer Zwölfjährigen so prekär sein konnte, dass man sie nach wie vor unter Verschluss hielt.
Er wandte sich wieder Holger Palmgrens Tagebuch zu, las es abermals Zeile für Zeile und versuchte herauszufinden, was es mit All Dem Bösen auf sich hatte. Doch im Text fanden sich keine Hinweise. Anscheinend war dieses Thema nur zwischen Holger Palmgren und Lisbeth Salander zur Sprache gekommen und niemals schriftlich festgehalten worden. Die Bemerkungen über All Das Böse kamen ganz am Ende des langen Tagebuchs. Vielleicht war Palmgren vor seinem Schlaganfall ja nicht mehr dazugekommen, entsprechende Notizen hinzuzufügen.
Was Rechtsanwalt Bjurman auf ganz neue Ideen brachte. Holger Palmgren war ab Lisbeth Salanders 13. Lebensjahr ihr Betreuer gewesen. Er war also präsent, kurz nachdem All Das Böse geschehen und Salander in die Kinderpsychiatrie eingeliefert worden war. Die Wahrscheinlichkeit war also recht groß, dass er wusste, was hier geschehen war.
Bjurman suchte noch einmal im Archiv des Vormundschaftsgerichts. Diesmal bat er aber nicht um Lisbeths Akten, sondern verlangte Palmgrens Auftragsbeschreibung - einen Beschluss des Sozialgerichts. Als er sie in Händen hielt, war sie auf den ersten Blick nichts als eine Enttäuschung. Zwei Seiten knapp gehaltene Informationen. Lisbeth Salanders Mutter war nicht mehr in der Lage, sich um ihre Töchter zu kümmern. Aufgrund besonderer Umstände mussten die Schwestern getrennt werden. Camilla Salander wurde vom Sozialdienst in einer Pflegefamilie untergebracht, Lisbeth Salander hingegen in die Kinderpsychiatrie St. Stefans eingewiesen. Alternativen waren gar nicht erst erwogen worden.
Warum? Nur eine kryptische Formulierung: Aufgrund der Vorfälle AZ 910312 hat die Sozialbehörde beschlossen, … Danach abermals ein Verweis auf das Aktenzeichen der mysteriösen Ermittlungen mit dem Geheimhaltungsstempel. Aber diesmal gab es noch ein Detail - den Namen des Polizisten, der die Ermittlungen durchgeführt hatte.
Verblüfft starrte Anwalt Nils Bjurman den Namen an. Einen Namen, den er kannte. Nur zu gut.
Das ließ die Dinge doch gleich in einem ganz anderen Licht erscheinen.
Er brauchte zwei weitere Monate, um sich die Ermittlungsunterlagen auf völlig anderen Wegen zu beschaffen - einen kurzen, präzisen Ermittlungsbericht, der siebenundvierzig Seiten in einer DIN-A4-Mappe umfasste, zuzüglich knapp sechzig Seiten, die im Laufe von sechs Jahren hinzugefügt worden waren.
Zunächst ging ihm der Zusammenhang gar nicht auf.
Aber dann stieß er auf die Bilder der Gerichtsmedizin und kontrollierte erneut den Namen.
Mein Gott … das kann doch nicht wahr sein.
Auf einmal begriff er, warum die Angelegenheit solch strenger Geheimhaltung unterlag. Nils Bjurman hatte den Jackpot geknackt.
Nachdem er den Ermittlungsbericht sorgfältig durchgelesen hatte, war ihm klar, dass es noch einen zweiten Menschen in dieser Welt gab, der Grund hatte, Lisbeth Salander mit derselben Leidenschaft zu hassen wie er selbst.
Er war nicht allein.
Er hatte einen Verbündeten. Den absurdesten Verbündeten, den er sich nur vorstellen konnte.
Langsam, aber sicher schmiedete er einen Plan.
Nils Bjurman wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als ein Schatten über seinen Tisch im »Café Hedon« fiel. Er blickte auf und sah einen blonden … Riesen . Das war das Wort, das ihm durch den Kopf schoss. Eine Zehntelsekunde lang war er perplex, aber dann gewann er schnell seine Fassung zurück.
Der Mann, der zu ihm
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