Verdammnis
aufwachten, war die Wolkendecke teilweise aufgerissen und ließ ein paar Sonnenstrahlen hindurch. Lisbeth tat jeder einzelne Muskel weh, und ihr Knie war so geschwollen, dass sie kaum das Bein anwinkeln konnte. Sie schlüpfte aus dem Bett, stellte sich unter die Dusche und entdeckte erneut die grüne Eidechse an der Wand.
Danach zog sie sich Shorts und ein Top an und humpelte aus dem Zimmer, ohne George aufzuwecken.
Ella Carmichael war immer noch auf den Beinen. Sie wirkte müde, aber die Bar in der Empfangshalle war bereits wieder in Betrieb. Lisbeth setzte sich an einen Bistrotisch und bestellte Kaffee und ein belegtes Brötchen. Sie warf einen Blick durch die leeren Fensterrahmen am Eingang und entdeckte ein parkendes Polizeiauto. Gerade hatte sie ihren Kaffee bekommen, als Freddy McBain mit einem Polizisten im Schlepp aus seinem Büro hinter der Rezeption trat. McBain erblickte Lisbeth und sagte etwas zu dem Polizisten, woraufhin sie auf Lisbeths Tisch zusteuerten.
»Das ist Mr. Ferguson von der Polizei. Er möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Lisbeth nickte höflich. Ferguson wirkte müde. Er zückte Notizblock und Kugelschreiber und notierte sich Lisbeths Namen.
»Miss Salander, wenn ich recht verstehe, haben Sie und ein Freund gestern Nacht während des Orkans Mrs. Richard Forbes gefunden.«
Lisbeth nickte.
»Wo haben Sie sie gefunden?«
»Am Strand, gleich unterhalb des Hoteleingangs«, antwortete Lisbeth. »Wir sind praktisch über sie gestolpert.«
Ferguson machte sich erneut Notizen.
»Hat sie irgendetwas gesagt?«
Lisbeth schüttelte den Kopf.
»War sie bewusstlos?«
Lisbeth nickte ernst.
»Sie hatte eine schwere Kopfverletzung.«
Lisbeth nickte abermals.
»Sie wissen nicht zufällig, wie sie zu dieser Verletzung gekommen ist?«
Lisbeth schüttelte den Kopf. Ferguson wirkte mittlerweile ein wenig irritiert wegen ihrer stummen Antworten.
»Da flogen jede Menge Trümmer durch die Luft«, erklärte sie schließlich. »Ich hätte auch fast ein Brett an den Kopf bekommen.«
Ferguson nickte ernst. »Sie sind am Bein verletzt worden?« Er zeigte auf Lisbeths Verband. »Wie ist das passiert?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe die Verletzung erst entdeckt, als ich in den Keller kam.«
»Sie waren in Begleitung eines jungen Mannes.«
»George Bland.«
»Wo wohnt er?«
»In einer Hütte hinterm ›Coconut‹, ein Stück die Straße zum Flugplatz runter. Falls die Hütte jetzt überhaupt noch steht …«
Lisbeth unterschlug die Tatsache, dass George Bland in diesem Augenblick in ihrem Bett im Obergeschoss schlief.
»Haben Sie ihren Mann gesehen, Richard Forbes?«
Lisbeth schüttelte den Kopf.
Da Ferguson keine weitere Frage mehr einzufallen schien, klappte er seinen Notizblock zu.
»Danke, Miss Salander. Ich muss einen Bericht über den Todesfall schreiben.«
»Ist sie denn gestorben?«
»Mrs. Forbes …? Nein, die ist im Krankenhaus in Saint George’s. Sie kann sich wohl bei Ihnen und Ihrem Freund bedanken, dass sie überlebt hat. Aber ihr Mann ist tot. Er wurde vor zwei Stunden auf einem Parkplatz am Flughafen gefunden.«
Knapp sechshundert Meter weiter südlich.
»Er war übel zugerichtet«, fuhr Ferguson fort.
»Wie traurig«, erwiderte Lisbeth Salander ungerührt.
Als McBain und Ferguson gegangen waren, näherte sich Ella Carmichael und setzte sich zu Lisbeth. Sie stellte zwei Gläser Rum auf den Tisch. Lisbeth sah sie fragend an.
»Nach so einer Nacht braucht man eine Stärkung. Den spendiere ich Ihnen - und das Frühstück natürlich auch.«
Die zwei Frauen sahen sich an. Dann hoben sie die Gläser und prosteten sich zu.
Mathilda sollte in den meteorologischen Instituten in der Karibik und den USA noch lange Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und hitziger Diskussionen bleiben. Tornados von Mathildas Stärke waren in diesem Gebiet so gut wie unbekannt. Theoretisch galt es als nahezu unmöglich, dass sie sich überhaupt über dem Wasser bilden konnten. Im Laufe der Zeit kristallisierte sich die Theorie heraus, dass in diesem Fall eine besonders außergewöhnliche Konstellation von Wetterfronten einen »Pseudotornado« geschaffen hatte - etwas, das kein richtiger Tornado war, sondern nur aussah wie einer. Viele machten den Treibhauseffekt und das gestörte ökologische Gleichgewicht dafür verantwortlich.
Lisbeth Salander kümmerte sich nicht groß um die theoretischen Diskussionen. Sie wusste, was sie gesehen hatte, und beschloss, in Zukunft jeder weiteren
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