Verdammnis
Herr Palmgren eine Tochter oder Pflegetochter hätte. Vielmehr scheint seine einzige Verwandte eine 86-jährige Cousine in Jämtland zu sein.«
»Er hat sich von meinem 13. Lebensjahr an um mich gekümmert, bis er den Schlaganfall bekam. Da war ich 24.«
Sie fummelte in der Innentasche ihrer Jacke herum und warf dann einen Kugelschreiber vor Dr. A. Sivarnandan auf den Tisch.
»Ich heiße Lisbeth Salander. Tragen Sie meinen Namen bitte in seine Akte ein. Ich bin die nächste Angehörige, die er auf der Welt hat.«
»Das ist schon möglich«, erwiderte A. Sivarnandan gelassen. »Aber wenn Sie seine nächste Angehörige sind, dann haben Sie sich ganz schön lange Zeit gelassen, bis Sie sich gemeldet haben. Soviel ich weiß, hat Holger Palmgren bis jetzt nur ein paar Besuche von einem Mann gehabt, der nicht mit ihm verwandt ist, der aber benachrichtigt werden soll, wenn sich sein Gesundheitszustand verschlechtert oder er versterben sollte.«
»Das dürfte wohl Dragan Armanskij sein.«
Dr. A. Sivarnandan zog die Augenbrauen hoch und nickte nachdenklich.
»Stimmt. Sie kennen ihn also.«
»Sie können ihn anrufen und meine Angaben überprüfen.«
»Das ist nicht nötig. Ich glaube Ihnen. Man hat mir berichtet, dass Sie zwei Stunden lang mit Herrn Palmgren Schach gespielt haben. Aber ohne sein Einverständnis kann ich trotzdem nicht mit Ihnen über seinen Gesundheitszustand sprechen.«
»Und dieses Einverständnis werden Sie von diesem bockigen Kerl niemals bekommen. Er leidet nämlich unter der Wahnvorstellung, dass er mich nicht mit seinen Leiden belasten darf und immer noch Verantwortung für mich trägt, nicht umgekehrt. Ich habe Holger Palmgren tatsächlich zwei Jahre lang für tot gehalten. Erst gestern habe ich erfahren, dass er noch am Leben ist. Wenn ich gewusst hätte, dass er … das ist alles ziemlich schwierig zu erklären, aber ich würde gerne wissen, wie seine Prognose aussieht und ob er sich wieder ganz erholen wird.«
Dr. A. Sivarnandan nahm den Stift und vermerkte Lisbeth Salanders Namen sorgfältig in Palmgrens Krankenakte. Er fragte sie nach ihrer persönlichen Kennnummer und ihrer Telefonnummer.
»In Ordnung, ich habe Sie als seine Pflegetochter vermerkt. Das ist hier vielleicht nicht ganz nach den Regeln, doch angesichts der Tatsache, dass Sie die Erste sind, die ihn besucht, seit Herr Armanskij letzte Weihnachten hier war … Sie haben ihn heute selbst gesehen und konnten feststellen, dass ihm das Sprechen und die Koordination seiner Bewegungen Probleme bereitet. Er hatte einen Schlaganfall.«
»Ich weiß. Ich habe ihn damals gefunden und den Notarzt verständigt.«
»Aha. Dann müssen Sie wissen, dass er drei Monate lang auf der Intensivstation lag. Er war lange bewusstlos. Die meisten Patienten wachen aus so einem Koma nicht wieder auf, aber manche eben doch. Er war anscheinend noch nicht bereit zu sterben. Zuerst wurde er in die Abteilung für chronisch Demenzkranke verlegt, die sich überhaupt nicht selbst versorgen können. Obwohl eigentlich alles dagegen sprach, zeigte er Anzeichen der Besserung und wurde vor neun Monaten in die Reha-Klinik überwiesen.«
»Was hat er für eine Zukunft?«
Dr. A. Sivarnandan hob ratlos die Hände.
»Haben Sie eine bessere Kristallkugel als ich? Um ehrlich zu sein - ich habe keine Ahnung. Er könnte noch heute Nacht an einem weiteren Schlaganfall sterben oder noch zwanzig Jahre lang ein ganz normales Leben führen. Ich weiß es nicht. Man könnte wohl sagen, es liegt in Gottes Hand.«
»Und wenn er noch zwanzig Jahre lebt?«
»Die Reha war sehr anstrengend für ihn, und erst in den letzten sechs Monaten konnten wir deutliche Fortschritte verzeichnen. Vor einem halben Jahr konnte er noch nicht mal ohne Hilfe essen. Erst seit einem Monat gelingt es ihm so gerade, vom Stuhl aufzustehen, weil seine Muskeln durch die lange Bettlägerigkeit verkümmert waren. Jetzt kann er zumindest schon kurze Strecken zurücklegen.«
»Wird er sich weiter erholen?«
»Ganz bestimmt. Der erste Schritt war sehr mühselig, aber jetzt beobachten wir fast täglich neue Fortschritte. Er hat fast zwei Jahre seines Lebens verloren. Ich hoffe, dass er in ein paar Monaten, im Sommer, hier im Park spazieren gehen kann.«
»Und das Sprechen?«
»Sein Problem war, dass sowohl das Sprachzentrum als auch das Bewegungszentrum betroffen waren. Doch allmählich gewinnt er die Kontrolle über seinen Körper und seine Sprache zurück. Er hat Schwierigkeiten, sich an die richtigen
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