Verdammnis
ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf. Nein, ich möchte keinen Nachschlag .
Holger Palmgren lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück und atmete tief durch. Lisbeth nahm die Serviette und trocknete ihm den Mund ab. Auf einmal fühlte er sich wie der Mafiaboss in einem amerikanischen Film, dem ein Untergebener seine Ehrerbietung erweist. Er sah es förmlich vor sich, wie sie ihm die Hand küsste, und musste über seine dumme Fantasie grinsen.
»Glauben Sie, hier kann man irgendwo eine Tasse Kaffee kriegen?«, fragte sie.
Er lallte. Seine Lippen und die Zunge wollten die Laute einfach nicht korrekt bilden.
»Tsch mm decke.« Tisch um die Ecke .
»Möchten Sie auch welchen? Mit Milch, ohne Zucker, so wie früher?«
Er nickte. Sie räumte das Tablett weg und kam nach ein paar Minuten mit zwei Kaffeetassen wieder. Er bemerkte, dass sie ungewohnterweise schwarzen Kaffee trank. Als er sah, dass sie den Strohhalm aus seinem Milchglas für seinen Kaffee aufbewahrt hatte, lächelte er. Schweigend saßen sie beisammen. Holger Palmgren lagen tausend Dinge auf der Zunge, doch er konnte sie nicht artikulieren. Aber sie sahen sich in die Augen. Lisbeth Salander, die schrecklich schuldbewusst wirkte, brach schließlich das Schweigen.
»Ich dachte, Sie wären tot«, sagte sie. »Ich wusste nicht, dass Sie noch leben. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich niemals … ich hätte Sie schon längst besucht.«
Er nickte.
»Verzeihen Sie mir.«
Er nickte nochmals und lächelte. Sein Lächeln war schief, er konnte nur seine Lippen verzerren.
»Sie lagen im Koma, und die Ärzte meinten, dass Sie innerhalb weniger Tage sterben würden. Da bin ich einfach gegangen. Es tut mir leid. Verzeihen Sie mir.«
Er hob die Hand und legte sie auf ihre. Sie drückte seine Hand ganz fest und atmete aus.
»Du sst veschwnn.« Du warst verschwunden .
»Haben Sie mit Dragan Armanskij gesprochen?«
Er nickte.
»Ich war verreist. Ich musste verschwinden. Haben Sie sich Sorgen gemacht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie brauchen sich niemals Sorgen um mich zu machen.«
»Hb mnie Song macht. Sie kmm kla. Aba Mnnski zch Song macht.« Ich hab mir nie Sorgen gemacht. Sie kommen immer klar. Aber Armanskij hat sich Sorgen gemacht .
Zum ersten Mal lächelte sie, und Holger Palmgren entspannte sich. Es war ihr gewohntes schiefes Grinsen. Er musterte sie, verglich das Mädchen, das vor ihm saß, mit dem Bild in seiner Erinnerung. Sie hatte sich verändert. Sie war sauber und gut gekleidet. Sie hatte sich den Ring aus der Lippe genommen und … hm … ihre Wespentätowierung am Hals war auch verschwunden. Sie wirkte erwachsen. Er musste richtig lachen, zum ersten Mal seit Wochen. Es klang freilich eher wie ein Hustenanfall.
Lisbeth grinste noch schiefer und merkte, wie sich in ihrem Herzen plötzlich eine Wärme ausbreitete, die sie schon lange nicht mehr verspürt hatte.
»Ssnd gut klakmm.« Sie sind gut klargekommen . Er deutete auf ihre Kleidung. Lisbeth nickte.
»Ich komme prima klar.«
»Wss dnooj Betroa?« Wie ist der neue Betreuer?
Holger Palmgren sah, wie sich Lisbeths Gesicht verfinsterte und sie die Lippen zusammenkniff. Gleichzeitig sah sie ihn aber ganz treuherzig an.
»Der ist okay … ich komme mit ihm zurecht.«
Palmgrens Augenbrauen zogen sich zu einem Fragezeichen zusammen. Lisbeth sah sich im Speisesaal um und wechselte dann das Thema.
»Wie lange sind Sie schon hier?«
Palmgren war nicht von gestern. Er hatte zwar einen Schlaganfall gehabt, aber sein Geist war völlig intakt, und sein Radar erspürte sofort einen falschen Ton in Lisbeths Stimme. In den Jahren ihrer Bekanntschaft hatte er gelernt, dass sie ihn nie direkt anlog, aber auch nicht ganz offen mit ihm sprach. Ihre Art des Lügens bestand darin, dass sie vom Thema ablenkte. Offensichtlich gab es da ein Problem mit ihrem neuen Betreuer. Was Holger Palmgren nicht weiter verwunderte.
Plötzlich überkam ihn tiefe Reue. Wie viele Male hatte er mit seinem Kollegen Nils Bjurman Kontakt aufnehmen wollen, um sich nach Lisbeth zu erkundigen, hatte es dann aber doch nie getan? Und warum hatte er sich nicht darum gekümmert, dass sie ihre Mündigkeit wiedererlangte, als er noch die Kraft dazu hatte? Er wusste, warum - aus egoistischen Gründen. Er liebte dieses verdammte schwierige Mädchen, als wäre sie die Tochter, die er nie gehabt hatte, und er suchte einen Grund, ihr Verhältnis zu bewahren. Er fühlte sich, als hätte er Lisbeth Salander verraten.
Aber sie überlebt
Weitere Kostenlose Bücher