Verdammt (German Edition)
nicht, wer mir mehr leidtut, sie oder ich. Ich meine, es ist ja irgendwie cool, einen Vorsprung zu haben und mich hier allein umzusehen, aber ein bisschen künstlerisch gesinnte Gesellschaft wäre auch nicht schlecht.
»Oh, das weiß ich leider nicht, Miss. Aber heute werden sie wohl nicht kommen, das steht schon mal fest.«
Sie geht auf den Kleiderschrank zu und nimmt ein rotes Seidenkleid mit tiefem Ausschnitt, engem Mieder und einem langen Rock mit Schleppe heraus. Sie sieht es auf derart bewundernde, begehrliche Weise an, dass ich schon fast vorschlagen will, sie soll es selbst anziehen, doch da dreht sie sich zu mir um. »Haben Sie denn nie Verkleiden gespielt, Miss? Mit den Sachen Ihrer Mutter?«
Ich denke an meine Mutter, eine sachlich-nüchterne,
überarbeitete Grundschullehrerin, die kaum jemals Gelegenheit hatte, sich groß herauszuputzen, und auch gar nicht viele Sachen besaß, mit denen sie sich hätte herausputzen können – außer man zählt baumwollene Strickjäckchen und gebügelte Bundfaltenhosen dazu.
»Nein«, erwidere ich. »Eigentlich nicht.«
Sie sieht mich an, und ihre Augen blitzen vor Vorfreude. »Tja, dann würde ich sagen, jetzt oder nie.«
Drei
Narren stürmen dort hinein, wohin
Engel nicht zu schreiten wagen.
Alexander Pope
»Also, normalerweise würde ich Sie jetzt in ein Korsett stecken und die Bänder so fest anziehen, dass Sie schreiend um Gnade flehen, aber heutzutage sind die jungen Mädchen ja alle so mager und muskulös vom Sport, dass gar kein Korsett mehr nötig ist, zumindest nicht in Ihrem Fall.«
»Heutzutage?« Ich wende mich zu ihr um und frage mich, ob ich meine Augen untersuchen lassen soll, da sie inzwischen noch jünger aussieht als vor ein paar Minuten. Ich weiß zwar, dass ich eher dünn bin, aber nicht mager. Definitiv nicht mager. Und übrigens auch nicht sportlich.
Sie beißt sich auf die Lippe und schließt die lange Reihe von winzigen, stoffbezogenen Knöpfen, die sich den ganzen Rücken hinaufziehen. Ihre Finger bewegen sich so flink und behände, dass man glauben könnte, sie machte das andauernd. »Na, was sagen Sie?« Sie schiebt mich vor den hohen Spiegel und tritt selbst zur Seite, sodass sie nicht zu sehen ist.
Ich schnappe nach Luft, so erstaunt bin ich darüber, wie mein sonst etwas wächserner Teint praktisch völlig
verwandelt ist und einen schönen Kontrast zu dem tiefen, satten Rot des Kleids bildet und wie mein Busen sich dank des ultratiefen Ausschnitts wölbt und wesentlich üppiger wirkt, als ich ihn kenne. Und als ich mit den Händen über die superschmale Taille und die weichen Falten des extraweiten Reifrocks streife, kann ich einfach nicht mehr leugnen, dass mir das Kleid steht.
Obwohl ich mich nie als ein solches Mädchen gesehen habe – ein strahlend schönes, aufwendig gekleidetes Mädchen –, obwohl ich stets neutrale Farben und klare, schlichte Linien bevorzugt habe, war das vielleicht ein Irrtum. Vielleicht bin ich in Wirklichkeit dieses Mädchen hier. Und es bedurfte nur eines einzigen Tages auf einer Kunstakademie in England, um es herauszufinden.
Ich drehe mich hin und her und kann den Blick kaum vom Spiegel abwenden. Dabei frage ich mich, ob es möglich ist, noch einmal von vorne zu beginnen, ganz frisch anzufangen und mich selbst neu zu erfinden.
Und ich frage mich, ob ich die Erinnerung an Jake und Tiffany und Nina auslöschen kann, einfach indem ich meinen alten Look gegen diesen umwerfenden neuen eintausche.
Ich mustere mein Haar und bewundere, wie es zu weichen, welligen Strähnen trocknet, die sich um mein Gesicht schmiegen, und wie meine sonst so unscheinbaren braunen Augen auf einmal vor Leben zu sprühen scheinen. »Ich glaube – ich glaube fast, ich habe jemand anders vor mir!«, sage ich, die Finger in den tiefen, seidigen Falten des Kleids vergraben, während mir ein Lächeln in die rosig angelaufenen Wangen steigt.
»Vielleicht sind Sie das ja tatsächlich«, flüstert Violet
mit ernster, abwesender Miene, als wäre sie in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort. Dann schüttelt sie den Kopf und wendet sich wieder mir zu. »Aber Sie sind noch nicht fertig.«
Ich lege den Kopf schief, betrachte mein Spiegelbild und die vielen Edelsteine, Bänder und Verzierungen, dass ich mich frage, was man noch hinzufügen könnte, ohne mein Outfit komplett extravagant wirken zu lassen. Doch sie ist bereits unterwegs zur Frisierkommode, hebt den Deckel einer versilberten Schmuckschatulle und entnimmt
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