Verdammt (German Edition)
Augen sind irgendwie verdeckt, sodass ich sie noch nicht richtig erkennen kann.
Als ich aufwache, brauche ich einen Moment, um alles einzuordnen – das Kleid, das Zimmer, das Tablett mit dem kalten Tee, dem unberührten Toast und den Eiern und einem halb aufgegessenen Würstchen, das quer über dem Teller liegt. Im ersten Moment ergibt nichts von dem, was ich sehe, einen Sinn, bis es mir allmählich dämmert – wer ich bin, wo ich bin und warum ich so gekleidet bin.
Ich hebe die Arme über den Kopf und recke mich von einer Seite zur anderen, erstaunt darüber, wie ich einfach so einschlafen konnte, mitten beim Essen. Aber das kommt bestimmt vom Jetlag – er wirft einen komplett aus der Bahn.
Doch nichts davon spielt eine Rolle, das Einzige, was zählt, ist der Traum. Während ich vor meiner Leinwand stehe, staune ich darüber, wie leicht es mir von der Hand geht, wie nahtlos sich die neuen Bilder in die Szene einfügen, die ich zuvor gemalt habe. Ich ziehe gerade den letzten Pinselstrich der glänzenden, zurückgekämmten Haare meines Objekts, als es an der Tür klopft.
»Hey, Violet«, sage ich, noch immer in mein Bild vertieft. »Sie können das Tablett mitnehmen, wenn Sie wollen. Anscheinend war ich eher müde als hungrig. Ich bin regelrecht umgekippt.«
»Super! Dummerweise bin ich aber nicht Violet.«
Als ich mich umdrehe, steht ein Junge meines Alters im Türrahmen. Er spricht nur mit einem ganz leichten britischen Akzent, der allerdings schwer amerikanisiert worden ist. »Ich bin Bram«, sagt er.
Ich ziehe eine Braue hoch. Das ist wirklich kein Name, den man heutzutage allzu oft hört.
»Meine Mom ist ein Goth, ein Grufti, was kann ich dafür?« Er zuckt die Achseln.
»Und dein Dad? Ist der auch ein Goth?«, frage ich, während ich seine dunklen, engen Jeans, das graue Kapuzenshirt und den schwarzen Blazer darüber mustere, und finde, er sieht so normal aus, dass in diesem Fall der Apfel ganz schön weit vom Stamm gefallen sein muss.
»Mein Dad ist tot.« Er nickt dabei und spricht es auf eine Art aus, die ich noch nicht beherrsche, wenn die Sprache auf meine Mom kommt – völlig neutral, ohne die leiseste Spur von Zittern oder Beben. Eine einfache Feststellung, ohne Raum für Gefühle.
»Tut mir leid.« Ich lege meinen Pinsel beiseite, was ich auf der Stelle bereue, da ich jetzt nicht mehr weiß, was ich mit meinen Händen anfangen soll.
»Nicht nötig. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht deine Schuld ist.« Er zuckt die Achseln und lächelt, wobei sein ganzes Gesicht auf eine Weise aufleuchtet, die mir richtig vertraut vorkommt – zumindest in den Teilen, die ich sehen kann: den Grübchen, den geraden Zähnen, dem klaren Teint, doch der Rest bleibt hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. »Also, was geht hier ab? Das ist doch Sunderland Manor, oder? Erzähl mir bitte nicht, dass ich gerade ins falsche Haus eingestiegen bin.«
Ich nicke und mustere ihn weiterhin eingehend, wobei ich mich frage, ob er einer der fehlenden Studenten ist, und hoffe, dass das zutrifft.
»Das ist die erste gute Nachricht heute.« Seufzend lässt er seinen Rucksack zu Boden fallen und geht auf mich zu. »Zuerst hat die Airline meinen Koffer verschlampt, dann hatte mein Zug Verspätung, und dann habe ich kein Taxi gefunden. Am Schluss musste ich drei verschiedene Busse nehmen und den restlichen Weg latschen. Ach, und dann
hab ich mir noch die Hose zerrissen, als ich über den Zaun geklettert bin, um hier reinzukommen. Ganz zu schweigen von diesem Nebel – was ist denn das für ein Nebel?«
»Dunst«, korrigiere ich, wobei meine Stimme entsetzlich affektiert klingt, und ich frage mich, warum ich es so gesagt habe.
»Dunst – Nebel – ganz egal.« Er lässt sich auf das Samtsofa fallen und blickt auf das Tablett. »Isst du das noch?«
»Es ist kalt«, warne ich ihn, während ich hinübergehe und mich auf den Stuhl neben ihm setze.
»Macht nichts«, murmelt er und macht sich sogleich über das Würstchen her. »Ich habe schon seit …« Er blinzelt, als versuchte er auszurechnen, wann er seine letzte Mahlzeit verzehrt hat, bevor er ebenso schnell wieder aufgibt und weiterfuttert.
»Hat Violet sich nicht erboten, dir etwas zu machen?«, frage ich und denke an das herzliche Willkommen zurück, das mir zuteil wurde.
Doch er sieht mich nur fragend an und kaut weiter. »Wer?«
»Du weißt schon, die Hausdame oder Wirtschafterin oder so.« Ich zucke die Achseln, denn ich bin es nicht
Weitere Kostenlose Bücher