Verdammt (German Edition)
Pflaster oder so was besorgen kann. Okay? Bram ?«
Ich taste neben mich, vor mich, hinter mich, und meine Hände fahren nur durch leere Luft, den Raum, den er eben noch ausfüllte – doch er ist weg. Nicht mehr hier. Überhaupt nirgends mehr.
Ich drehe mich um die eigene Achse und rufe seinen Namen, während ich mit den Armen durch den Nebel wedele. Aber ich sehe ihn nicht. Sehe überhaupt nichts. Und ganz egal, wie laut ich auch schreie, ganz egal, wie oft ich auch seinen Namen rufe, es kommt keine Antwort.
Ich bin allein.
Und doch – auch wieder nicht.
Da ist noch jemand. Etwas. Und als ich das sanfte rote Leuchten in der Ferne sehe, wende ich mich um und laufe in die entgegengesetzte Richtung. Ich falle über einen Hügel aus frisch ausgehobenem Erdreich und begreife erst, als mir jemand eine Hand fest auf den Mund drückt, dass dieser laute, durchdringende Schrei mein eigener war.
Sechs
Am höchsten springt ein verwundetes Reh.
Emily Dickinson
Als er mich an sich zieht, mich fest an seine Brust drückt, löst sich der Nebel auf. Alles wird klar. Und endlich sehe ich ihn, schaue direkt in seine tiefen, dunklen Augen. Sein von einem beinahe unwirklich dichten Wimpernkranz gerahmter Blick ist forschend, eindringlich, bezaubert mich.
»Du bist gekommen«, flüstert er, und die Worte klingen auf seinen Lippen wie ein Lied. »Du bist gekommen, um mich zu retten, nicht wahr? Du hast den weiten Weg zurückgelegt, über Meere und Zeiten hinweg, damit wir wieder zusammen sein können.« Seine dunklen Augen mustern mein Gesicht. »Über so viele Jahre, so viele Leben hinweg, habe ich nach dir gesucht, und jetzt habe ich dich endlich gefunden. Du bist so schön wie immer, wie früher. Sieh mich an, bitte sieh mich an und sieh mich so wie einst.«
Ich gehorche. Ich schaue ihm in die Augen und sehe alles – bis ins Kleinste. Unsere Liebe, unsere große, verzehrende Liebe und das Feuer, das sie in einem einzigen Augenblick ausgelöscht hat …
Ich presse meine Hand auf seine kalte, glatte Wange und erschauere unter der Kälte seiner Berührung, als er sie mit
seiner bedeckt. »Ich mache dich wieder ganz«, verspreche ich. »Wir werden zusammenleben, für immer. Wir werden nie wieder getrennt sein …«
Als ich seinen Blick auffange, weiß ich genau, was ich tun muss. Und obwohl ich nicht wegwill und alles dafür tun würde, um hier in diesem herrlichen Ballsaal zu bleiben, von seinen Armen umfangen, seine kühlen Lippen an meinem Ohr, meiner Wange, meinem Hals, muss ich doch gehen. Damit ich dies für immer haben kann, muss ich aufwachen und malen.
Es geht nur so …
Ich schlage die Augen auf und blicke in ein dunstgefülltes Zimmer. Obwohl Fenster und Türen geschlossen sind, umgeben mich die Schwaden von allen Seiten – schlingen sich um meine Beine, meinen Oberkörper, meinen Kopf und verharren an der schmerzenden, feuchten Wunde an meinem Hals. Ich erhebe mich aus dem Bett und trete an meine Staffelei, da ich weiß, dass ich das Porträt fertig malen, die Szene vollenden muss, ehe ich nach unten gehe und warte.
Ich höre Musik. Weiche, melodisch perlende Musik, die von unten heraufgeschwebt kommt. Musik, die mich ruft – mir signalisiert, dass der Zeitpunkt jetzt gekommen ist.
Das Bild ist fertig.
Ich lege den Pinsel ab und trete zurück, um mein Werk zu begutachten. Es ist perfekt. Er ist perfekt. Genau wie in meinem Traum. Und jetzt bleibt nur noch eines zu tun, damit mein perfekter Geliebter zu mir zurückkehrt.
Eine kleine Aufgabe, um diese Restaurierung vollständig zu machen.
Ich schaue in den Spiegel und streiche über das tief ausgeschnittene Kleid aus schwarzer Moiréseide. Ich habe keine Erinnerung daran, wann ich es anstelle des violetten angezogen habe, bin aber immer noch mehr als angetan von dem Spiegelbild, das mir entgegenblickt. Als ich sehe, wie sich der Nebeldunst um mich herumschlängelt, weiß ich, dass auch er angetan ist. Jetzt begreife ich das, was ich zuvor nicht erkannt habe.
Er verursacht den Dunst.
Er ist der Dunst.
Sie sind ein und dasselbe.
Er führt mich den Flur entlang, wobei die Schwaden hinter mir herziehen, vor mir und um mich herum wabern und mich ganz ans Ende locken, wo ich vor einem großen, 1896 gemalten Porträt von mir – Lily Earnshaw – stehen bleibe, auf dem ich dasselbe Kleid und denselben Schmuck trage wie jetzt.
Ich strecke die Hand danach aus, fahre mit den Fingern über die glatte Seide des Kleids, die blasse Hautfläche
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