Verdammt wenig Leben
auch die von Tinkerbell überbrachte Warnung die Tragödie nicht verhindern können. Aber wenn Minerva sich die Mühe gemacht hatte, ihm diese Geschichte von ihrem Versteck aus zu schicken, musste sie gute Gründe dafür haben. Lag da nicht der Gedanke nahe, dass der Produzent auch hier wieder seine Stars hinterging, wie bei den beiden anderen Drehbüchern? Jedenfalls war der Weg, den Jason eingeschlagen hatte, der einzig mögliche. Wenn der junge Carlos nicht wirklich sterben wollte, würde er die Katastrophe verhindern. Und wenn doch … Tja, dann hatte er es zumindest versucht.
Es tat ihm vor allem leid, dass er Tinkerbell mit der abgespeicherten Nachricht hatte schicken müssen, anstatt selbst hinzugehen. Aber welche Chancen hätte ein Mensch gehabt, sich in ein so streng überwachtes Studio wie das der »Lebendigen Lyrik« einzuschleusen? Es handelte sich schließlich nicht um ein provisorisch eingerichtetes Aufnahmestudio, sondern um ein Haus, das speziell dafür gebaut war, seine Bewohner vierundzwanzig Stunden lang aus allen Blickwinkeln zu filmen. Eine der Bedingungen für den Wettbewerb war die absolute Isolation der Teilnehmer. Sie durften nichts von dem erfahren, was in der Außenwelt vor sich ging, hatten weder Telefon noch Computer, und ihr einziges Equipment bestand aus diesen kleinen elektronischen Lesegeräten, mit denen sie ihre Drehbücher herunterluden. Das Publikum bekam diese winzigen Apparate nie zu sehen. Sie mussten immer versteckt bleiben. Jason wusste davon, weil er mit Schauspielern und Regisseuren zusammengearbeitet hatte, die sich in der Welt der Realityshows auskannten. Es war zumindest in seinen Kreisen ein offenes Geheimnis … Nun ja, er hoffte, Tinkerbell würde es schaffen, das Dokument mit seiner Nachricht auf dieses simple Gerät zu übertragen.
Gegen zwei oder drei Uhr nachts hatte er überlegt, seinen Agenten anzurufen. Paul war wegen der verpatzten Szene mit Alice garantiert ziemlich sauer auf ihn, er hatte sich nicht einmal gemeldet. Jason kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich bald wieder beruhigen würde, aber am Ende entschied er sich gegen den Anruf. Natürlich hätte Paul ihm Insiderinformationen über die literarische Realityshow von Carlos Muro & Co. liefern können. Vielleicht hätte er ihm sogar die Drehbücher besorgen können, die die Hauptdarsteller bekommen hatten, und dann hätte er sie mit Minervas Fassung vergleichen können.
Aber nachdem Jason stundenlang alle Pros und Kontras abgewogen hatte, beschloss er, kein Risiko einzugehen. Wenn es in Pauls Charakter eine hervorstechende Eigenschaft gab, dann seine Feigheit. Immer wenn etwas Unvorhergesehenes passierte, geriet er in Panik – und das hier war mehr als unvorhergesehen. Wenn er Paul die Sache mit Minervas Drehbüchern erzählte, würde er sie höchstwahrscheinlich beide sofort anzeigen. Natürlich nicht bei der Polizei; schließlich tat keiner von beiden etwas Illegales. Nein, Paul würde mit Jasons Produzenten reden und sich auf diese Weise absichern. Vielleicht unterschätzte Jason die Loyalität seines Agenten, aber was, wenn nicht? Nein, es war das Beste, ihn nicht in diese Geschichte hineinzuziehen.
Folglich musste er allein handeln und sich mit den bescheidenen Mitteln begnügen, über die er verfügte.
Unter der Bettdecke bekam er eine Gänsehaut. Es war nicht kalt, aber seine Füße waren wie aus Eis. Er hätte die Socken anbehalten sollen. Hektisch rieb er die Füße aneinander, bis das Kältegefühl nachließ. »Alles psychisch», sagte er sich. »Ich muss mich beruhigen und darf mich nicht ablenken lassen.«
Plötzlich ging ihm ein Bild von Edgar Frey durch den Kopf. Er lag auf dem Rücken und ein weißes Laken bedeckte seinen nackten Körper bis zur Höhe der Brust. Es war in einem Obduktionssaal, er war tot. Seine Haut war schlaff und gelblich. Jason drückte sich die Handflächen gegen die Augen. Normalerweise stellte er sich Dinge nicht so plastisch vor. Doch der Tod des Wissenschaftlers hatte ihm offenbar mehr ausgemacht, als er sich zuerst hatte eingestehen wollen.
Warum hatte er sterben müssen? Für Jason lag die Antwort auf der Hand. Nachdem er Freys Livetod nach der Einnahme des tödlichen Impfstoffs verhindert hatte, hatten seine Mörder einen anderen Weg gefunden, ihn loszuwerden. Jasons Eingreifen hatte nur dazu gedient, das Leben des Mikrobiologen um einige Stunden zu verlängern.
Das hätte er sich ja denken können. Sie, die »Unsichtbaren«, kontrollierten
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