Verdammt wenig Leben
gesagt, dass es mir leidtut. Was willst du denn noch hören?«
Alice hob die Augenbrauen. »Warum bist du so nervös?«, fragte sie.
»Und du, warum bist du so gereizt? Hast du das mit Clarissa etwa geglaubt? Um Gottes willen, Alice, das ist doch nur Theater!«
»Ja, ja. Genau deshalb hat es mich überrascht, dass du sofort in die Rolle des Mannes geschlüpft bist, der seine Freundin betrügt. Vor allem, weil du dich doch direkt vorher anscheinend nicht konzentrieren konntest.«
Jason ahnte, dass hinter diesen bissigen Vorwürfen klammheimliche Freude lauerte. Alice spielte immer noch Theater … Aber jetzt tat sie es nur für ihn – um ihm weiszumachen, ihr läge etwas an seinen Gefühlen, während er ihr in Wirklichkeit doch vollkommen egal war.
»Ach, denk doch, was du willst«, erwiderte er müde. »Ich hatte keinen guten Tag heute, wir setzen dieses Gespräch besser ein andermal fort.«
Alice lächelte ihn gleichgültig an. »Meinetwegen.« Sie kehrte ihm den Rücken zu und ging zu den Aufzügen. »Wahrscheinlich bis bald.«
Als Jason wieder hineinging, waren die Kameras schon fort. Das Equipment war sehr teuer und die Besitzer versuchten damit möglichst viel Gewinn zu erwirtschaften. Wahrscheinlich war es bereits in einem automatischen Gleiter zu einer neuen Aufzeichnung unterwegs.
In der Küche räumte Tinkerbell gerade den Geschirrspüler aus. Jason war nicht dazu aufgelegt, sich ihren Fragen auszusetzen, also ging er direkt ins Schlafzimmer.
Das zerwühlte Bett, auf dessen weiße Laken jetzt das Mondlicht schien, kam ihm vor wie ein Segelschiff, das mitten im dunklen Ozean trieb. Bei diesem Bild lief es ihm eiskalt über den Rücken. Mit einem Sprachbefehl schaltete er das indirekte Licht ein, ging um ein auf dem Boden liegendes Kissen herum zum Schreibtisch und aktivierte das Interface seines Telefons.
Da waren sie, genau wie er vermutet hatte. Zwei Dateien, beide mit Minervas Code versehen. Als er die erste anklickte, öffneten sich vor seinen Augen die düsteren Hologramme eines Storyboards in Schwarzweiß.
Diesmal beschloss er, systematisch vorzugehen und die Geschichte von Anfang bis Ende zu lesen. Als er nach einer knappen halben Stunde vom letzten Panel aufblickte, war er so fassungslos, dass er sogar vergaß, die Projektion abzustellen, um den Akku zu schonen.
Er kannte die Sendung. Es war eine literarische Realityshow, in der zwanzig junge, verzweifelte Lyriker in einem völlig von der Außenwelt isolierten Haus zusammenlebten und versuchten ihr Meisterwerk zu schreiben. In dieser Staffel hatten die Produzenten keine einzige Frau aufgenommen. Das war eine riskante Entscheidung, denn in früheren Staffeln war die Bildung von Pärchen unter den Teilnehmern natürlich einer der Anreize gewesen. Aber die Serie war als Kultursendung für eine absolut elitäre Zielgruppe entstanden, und die Drehbuchautoren wollten beweisen, dass sie dem künstlerischen Geist des Projekts treu blieben. »Leben als Literatur, Literatur als Leben« lautete das Motto der Direktübertragungen in der täglichen Anmoderation. Die Einschaltquote war stabil genug, um sich den Luxus zu erlauben, auf die gängigen Köder zu verzichten.
Das hatte Jason bisher zumindest angenommen, doch das Drehbuch, das er gerade gelesen hatte, warf ein völlig anderes Licht auf die ganze Sache.
11
Um fünf Uhr morgens weckte Jason Tinkerbell. Die Akkus seiner kleinen Hausroboterin waren fast aufgeladen, aber sie war nicht daran gewöhnt, dass Jason ihre Ruhestunden störte.
»Was ist los?«, fragte sie mit ihrer samtweichen künstlichen Stimme.
»Ich brauche dich, Tinki.« Jason legte die rechte Hand flach auf ihren metallischen Körper, der darauf programmiert war, emotional auf diesen Reiz zu reagieren.
»Das hast du schon lange nicht mehr zu mir gesagt«, zwitscherte Tinkerbell erfreut. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich muss dich um etwas sehr Gefährliches bitten. Wenn ich könnte, würde ich es selbst tun, aber ich bin zu groß, um unbemerkt zu bleiben. Du hingegen kannst hineinkommen, glaube ich.«
»Hineinkommen? Wo denn?«
Um ihre Frage zu beantworten, aktivierte Jason bei seiner kybernetischen Helferin den Port für die Datenübertragung und lud eine holografische Landkarte in den Arbeitsspeicher.
»Hier hast du den Ort und eine Wegbeschreibung. Versuch nicht aufzufallen und geh möglichst den Kameras aus dem Weg. Es ist eine Wohnkulisse, in der eine Realityshow gedreht wird.«
»Aber solche Studios
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