Verdammt wenig Leben
alles und Jason blieb nur ein sehr geringer Handlungsspielraum. Wenn sie jemandes Tod beschlossen, was konnte dann ein einfacher Mensch »von ganz unten« schon tun, um es zu verhindern? Praktisch nichts.
Mit einem Schauder fragte er sich, ob Susanna Allen dasselbe Schicksal bevorstand. Zumindest war sie gewarnt. Wenn sie clever war, fand sie vielleicht einen Weg, ihrer Figur neues Leben einzuhauchen und damit die Bosse ihrer Sendung umzustimmen. So würde sie wenigstens Zeit gewinnen, um einen Ausweg zu suchen. Oder hatte sie den vielleicht schon gefunden? Susanna hatte sehr entschlossen auf ihn gewirkt. Vielleicht war sie abgehauen, nachdem sie begriffen hatte, in welcher Gefahr sie schwebte? Er hätte das an ihrer Stelle vielleicht getan. Vielleicht. Alles, was er von der Welt kannte, war die transparente Welt, im Mittelpunkt diese Stadt mit ihren transparenten Gebäuden und ihren Mega-Filmstudios, in denen alle Leben vorab geschrieben wurden. Ihm war bewusst, dass es jenseits davon eine andere Welt gab, aber er hatte nie den Wunsch verspürt, sie kennenzulernen. Das wenige, was er darüber wusste, flößte ihm Angst ein: Wüsten, Steilküsten, endlose Felder, auf denen Maschinen die Saat ausbrachten und die Ernte einholten. Unendliches brachliegendes Land, wo das menschliche Leben keinerlei Bedeutung hatte … Wie konnte man an solchen Orten leben? Und vorausgesetzt, man würde überhaupt überleben, was wollte man da? Wozu weiterleben, wenn das eigene Leben keinen Sinn mehr hatte?
Das Blinken des Telefons brachte Jason dazu, die Augen zu öffnen. Wie lange war Tinkerbell schon außer Haus? Er musste eingeschlafen sein …
In der Dunkelheit zeichnete sich Tinkerbells Hologramm ab. Es leuchtete in unregelmäßigen Abständen auf, was bedeutete, dass das Signal nicht besonders gut war.
»Jason, hörst du mich? Jason, wir haben keine Zeit! Ich glaube, sie haben mich entdeckt.«
Erschrocken setzte er sich im Bett auf. Er brauchte mehrere Sekunden, bis er etwas sagen konnte.
»Was ist passiert, Tinkerbell? Mach, dass du wegkommst, wir reden später!«
»Ich kann nicht raus, an allen Fenstern und an der Eingangstür sind schwebende Kameras. Sie sind vor ein paar Minuten gekommen. Wenn ich versuche zu fliehen, schnappen sie mich. Ich kann nur versuchen, mich ruhig zu verhalten.«
»Ich rufe Paul an. Ich werde dich da schon irgendwie rausholen.«
»Red keinen Unsinn, Jason. Paul wird kaum Kopf und Kragen für mich riskieren. Und du solltest das auch nicht tun.«
»Hast du meine Nachricht auf das Lesegerät des Typen übertragen können?«
»Ja. Und ich habe den Kompass gefunden, Jason. Deswegen rufe ich dich an. Ich glaube nicht, dass ich ihn hier rausschmuggeln kann, also schicke ich dir am besten ein dynamisches Foto. Bist du bereit zum Speichern?«
»Ja. Ich bin startklar.«
Solange die Datenübertragung dauerte, ließ Jason das holografische Interface mit Tinkerbells virtuellem Abbild nicht aus den Augen. Er war wie gelähmt, außerstande, irgendeine Entscheidung zu treffen. Ein einziger Gedanke ratterte immerfort durch seinen Kopf: Wenn seine kybernetische Helferin entdeckt wurde, galt das auch für ihn. Alle diese Roboter waren registriert. Wenn Tinkerbell ihnen also in die Hände fiel, würden sie die Spur bald bis zu ihm zurückverfolgen können.
Dann ging alles blitzschnell. Kaum hatte Tinkerbell den Kompass in ihrem Ablagefach verstaut, da stürzten sich schon zwei Wachroboter auf sie. Brutal rissen sie ihr die Arme aus. Zertrümmerten sie Stück für Stück. Funken flogen, ein Kabel in ihrem Inneren geriet in Brand und verwandelte ihr rechtes Auge in einen gekrümmten glühenden Stummel.
Voller Entsetzen beobachtete Jason die Szene, die ihm von einer der Wächterzellen in Tinkerbells Füßen übermittelt wurde.
Er sah wie gebannt zu, bis die Verbindung abbrach.
12
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Am Nachmittag, gegen Viertel nach drei, stand Jason unschlüssig in der Küchentür. Ihm war nicht danach, unter die Dusche zu gehen. Er hatte noch stundenlang vor dem Computer gesessen, die Nerven gespannt wie Gitarrensaiten, und darauf gewartet, dass das Schlimmste eintrat. Es konnte nicht lange dauern, bis das Filmteam von »Lebendige Lyrik« herausfand, wem der fremde Roboter gehört hatte. Und dann würde irgendetwas passieren, auch wenn er sich nicht recht vorstellen konnte, was genau. Vielleicht würde man ihn bei der Polizei anzeigen und er würde im Streifenwagen abgeholt werden; oder vielleicht würden sie
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