Verdammt wenig Leben
ihn erpressen und dazu zwingen, in irgendeiner Realityshow dieses Produzenten mitzuarbeiten …
Es gab aber noch viel üblere Möglichkeiten. Genau wie sie Tinkerbell erledigt hatten, konnten sie auch ihn erledigen. Diese Leute waren zu allem fähig, das war jetzt bewiesen. Wenn sie es fertigbrachten, eine Handvoll junger Männer mit literarischen Ambitionen ohne die geringsten Skrupel zu töten, wer konnte sie dann daran hindern, jemanden wie ihn selbst zu liquidieren, der es gewagt hatte, ihnen ins Handwerk zu pfuschen?
Jason hatte sich nie viele Gedanken über den Tod gemacht. Er war jung, er war gesund, und alles in seinem Leben funktionierte perfekt wie ein Uhrwerk. An Selbstmord hatte er nie gedacht – jedenfalls nicht ernsthaft. Natürlich ging ihm diese Möglichkeit manchmal durch den Kopf; das war bei allen Menschen so. Aber er zwang sich dann immer, an seine Eltern zu denken. Er wollte sein Leben nicht vergeuden, so, wie sie es getan hatten. Er würde nicht beim ersten Misserfolg das Handtuch werfen! Er war kein Schwächling. Und selbst wenn, würde er nicht zulassen, dass seine Schwäche ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Er würde ertragen, was ertragen werden musste, bis zum Schluss. Er wollte Spuren in der Welt hinterlassen; sicher sein, dass Millionen von Menschen noch lange an ihn denken und von ihm sprechen würden, wenn er nicht mehr da war.
Doch in den letzten Tagen hatte sich seine Situation verändert. Zum ersten Mal fragte er sich, wie es weitergehen sollte. Er war nach wie vor bereit, durchzuhalten und an sich zu arbeiten, fürchtete jedoch, nicht mehr auf das Wohlwollen der »Unsichtbaren« zählen zu können. Minerva, seine wichtigste Fürsprecherin in dieser höheren Welt, war verschwunden. Von ihrem Versteck aus schickte sie ihm Drehbücher, die nichts mit ihm zu tun hatten, schreckliche Drehbücher. Und deshalb hatte er den Kopf verloren und mischte sich in das Leben anderer ein. Erst jetzt, nach dem, was Tinkerbell zugestoßen war, merkte er, wie waghalsig er sich eigentlich verhielt. Mit dem Wahnsinn der letzten Tage hatte er seine Zukunft ruiniert.
Er hatte vollkommen übereilt gehandelt. Für ihn hatte festgestanden, dass Minerva ihn zum Handeln aufforderte, und zwar hinter dem Rücken der Personen, auf die er angewiesen war: seines Agenten und seines Produzenten. Er hatte sich von einer romantischen Fantasie hinreißen lassen, die wahrscheinlich nichts mit der Realität zu tun hatte. Er hatte geglaubt, die geheimnisvollen Dateien, die er auf sein Handy geschickt bekommen hatte, wären ein Zeichen für die enge Verbindung zwischen ihm und seiner Drehbuchautorin, ein magisches und unzerstörbares Band. Erst jetzt merkte er, wie dumm er gewesen war.
Denn er hatte ja noch nicht einmal alle Möglichkeiten in Betracht gezogen: Vielleicht stellte Minerva ihn in Absprache mit seinem Produzenten nur auf die Probe. Vielleicht hatten sie ihm einen gewissen Handlungsspielraum einräumen wollen, um zu sehen, was er damit anfing. Tja, in diesem Fall konnte das Ergebnis nicht entmutigender sein … Er hatte voller Naivität und Leichtgläubigkeit gehandelt. Er war ungerechtfertigte Risiken eingegangen. Und zwar nicht einmal, um anderen zu helfen, als vielmehr, um sich selbst etwas zu beweisen.
Das einzig Positive an dieser Hypothese war, dass er dann wenigstens nicht um sein Leben fürchten musste. Vielleicht wollte der Produzent sein Potenzial im Hinblick auf die Zukunft ausloten und vielleicht brachte sein Verhalten seine ganze Medienkarriere zum Scheitern, aber zumindest würde er am Leben bleiben. Außerdem würde er sich wirklich freuen, wenn die ganzen Ungeheuerlichkeiten aus Minervas Storyboards frei erfunden wären. Ganz egal, wie seine Zukunft aussah, zumindest konnte er sich dann damit trösten, dass es in seiner Welt nicht wirklich so erbarmungslos zuging wie in den Skripts.
So hatte er also bis in den Vormittag hinein dagesessen und gewartet. Er war sich sicher, dass jeden Moment das verschlafene Gesicht seines Agenten oder gar das von Minerva auf dem holografischen Interface seines Computers auftauchen würde. Außerdem hatte er auf die nächtlichen Geräusche in seinem Apartment gelauscht. Vielleicht würde man ihn holen kommen. Wenn sie ihm etwas antun wollten, würden sie höchstwahrscheinlich Wachroboter schicken. Diese Apparate konnten sich sehr leise bewegen, aber wenn er aufpasste, würden sie ihn nicht überrumpeln. Es konnte aber auch sein, dass sie Menschen
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