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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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schickten. Wie auch immer, er musste auf alles gefasst sein.
    Schließlich war er mit dem Kopf auf dem Schreibtisch eingenickt. Als er aufwachte, war es schon zwei Uhr nachmittags. Normalerweise konnte er in einer so unbequemen Haltung nicht lange schlafen, aber diesmal waren es fast fünf Stunden gewesen.
    An den Türrahmen gelehnt, betrachtete er nachdenklich das Durcheinander in der Küche. Er hatte noch nie ohne Hausroboter gelebt. Den ersten Impuls, das schmutzige Geschirr vom Abendessen in die Spülmaschine zu räumen, verwarf er sofort. Darum würde er sich später kümmern. Jetzt brauchte er erst mal dringend einen Kaffee und er hatte Hunger, also wagte er das Experiment, sich selbst Frühstück zu machen.
    Jahrelang hatte er dabei zugesehen, wie Tinkerbell den Kaffeeautomaten mit Wasser gefüllt und den Druck so eingestellt hatte, dass dabei ein Kaffee herauskam, der ihm schmeckte – eine dieser alltäglichen Szenen, die sich immer wieder vor unseren Augen abspielen, ohne dass wir sie jemals wirklich wahrnehmen. Jason war nie auf die Idee gekommen, auf Tinkerbells Handgriffe zu achten, was er jetzt sehr bedauerte.
    Das dunkle Gebräu, das sich in seine Tasse ergoss, hatte eine schlammige Konsistenz und roch nach verbranntem Holz. Trotzdem kippte er es nicht weg. Um es dünnflüssiger zu machen, fügte er etwas heißes Wasser aus dem Automatikspender hinzu. Mit Zucker wäre es vielleicht gar nicht so übel.
    Die Zuckerdose hatte einen Holzdeckel, der sich mit einem Gummiring an das Porzellan anschmiegte. Als Jason daran zog, löste er sich mit einem ploppenden Geräusch. Für einen Augenblick starrte Jason die grobkörnige, karamellfarbene Masse an. Er atmete ihren Duft ein, schloss die Augen und tauchte den Finger hinein. Die Berührung löste ein angenehmes Kribbeln aus. So etwas hatte er noch nie getan: sich völlig grundlos einem unerwarteten, schlichten Vergnügen hinzugeben. Plötzlich hatte er eine kleine Entdeckung auf einem Gebiet gemacht, von dem er bis dahin nie geglaubt hätte, dass Gefühle oder Überraschungen darin Platz hatten.
    In diesem Moment drang die sanfte, geistlose Melodie an sein Ohr, die sein Telefon bei Nachrichten von Paul von sich gab. Er zog die Hand aus der Zuckerdose und lauschte weiter, bis die Melodie abbrach. Erst dann ging er ins Schlafzimmer zurück, um einen Blick auf sein Handy zu werfen.
    Er erwartete eine rasch improvisierte Holonachricht, ein paar Sätze von Paul, mit denen er ihn dringend um Rückruf bat, aber er fand etwas anderes vor. Paul hatte ihm eine ziemlich große Datei geschickt, etwa vom Umfang eines normalen Drehbuchs. Und das war es tatsächlich: ein neues Drehbuch von Minervas Nachfolgern, versehen mit der kurzen Bitte, es für den nächsten Abend auswendig zu lernen.
    Sonst war da nichts. Kein Vorwurf, keine indirekte Warnung; nichts, was darauf schließen ließ, dass Paul über den nächtlichen Vorfall im Wohnhaus-Studio der Lyriker Bescheid wusste. Kein einziges Wort über sein katastrophales Versagen in der Sendung am Vorabend oder über Alice’ rettende Improvisation.
    Eigentlich war das merkwürdig. Paul gehörte zu der Sorte Menschen, die sich ihre Kommentare nicht verkneifen können, nicht einmal wenn sie wissen, dass sie nicht gut aufgenommen werden. Die Besonnenheit, die sein Beruf ihm gebot, war ganz und gar nicht mit seinem Charakter vereinbar. Wenn er gute Laune hatte, war er extrovertiert, gesprächig, brillant. Aber wenn nicht, warf er fast mechanisch mit sarkastischen Bemerkungen, Vorwürfen und Beschimpfungen um sich, die niemand außer dem eigenen Produzenten stoppen konnte. So jemand konnte ein Fiasko wie das der Sendung am Vorabend nicht hinnehmen, ohne wenigstens eine ironische Bemerkung fallen zu lassen. Er war nicht gerade der geborene Diplomat.
    Mit einer automatischen Geste auf dem holografischen Interface öffnete Jason die Datei mit dem Drehbuch. Es musste einen Grund für Pauls Schweigen geben. Vielleicht war alles noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte … Paul war ein Angsthase. Wenn sein Klient in Ungnade gefallen war und er davon erfuhr, würde er versuchen, sich herauszuhalten. Ja, das musste es sein. Paul hatte den Braten gerochen und wollte sich nicht die Finger verbrennen, wenn es brenzlig wurde.
    Zuerst ließ Jason den Blick flüchtig über das neue Storyboard gleiten. Er sah es bis zum Ende auf der Suche nach einem der vierblättrigen Kleeblätter durch, mit denen Minerva die Arbeiten für ihn

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