Verdammt
Flüstern. Als würde das Aussprechen ihres Namens die Unterirdischen zu Todgeweihten abstempeln. Rheena lächelte innerlich und hoffte es. »Das ist morbide, Rheena. Ekelhaft.« Sie lauschte dem Wortschwall ihrer leiblichen Mutter, während sie um bleiche Leiber herumtänzelte, die schwerfällig und stumm vor Angst umherschlurften, bis sie die Öffnung ihrer Höhle erreicht hatten.
»Ähm, wie bitte?«
Ein Seufzer zischte über die Lippen ihrer leiblichen Mutter, als sie sich Rheena zuwandte. »Was ist denn jetzt wieder?«
»Darf ich mit den Männern nach Oben gehen? Nur einmal?«
»Was bist du nur für ein dummes, dummes Mädchen.«
Rheena musste vor dem Schlund zu ihrer Behausung stehen bleiben und wurde nur eingelassen, wenn ihr Vater ihren Anblick ertragen konnte. Nervös sah sie zu, wie die leuchtenden Gestalten zu den Öffnungen ihrer bienenstockartigen Wohnstatt hinein- und heraussurrten. Lass mich nicht allein. Hier draußen. Mit ihnen.
»Müssen wir diesen Mist wirklich Monat für Monat durchkauen?« Die altbekannten Worte ihres leiblichen Vaters dröhnten bis vor die Höhle, wo Rheena wartete.
Immer wartend.
»Ihr Frauen geht nicht nach Oben, schon gar nicht zum Jagen. Das ist Männerarbeit. Gehört zum Männerleben. Warum fragt dieses Mädchen immer wieder? Sie muss doch wissen, dass meine Antwort immer gleich bleibt. Nein!« Er
hielt inne, doch wie alle Männer von Unten erwartete er keine Antwort vonseiten seiner Frau und wünschte auch keine. »Jetzt hol sie rein, dann sag ich es ihr. Noch mal .« Das Knarren seines großen Holzstuhls signalisierte, dass er sich hingesetzt hatte, genervt und angewidert von dem draußen wartenden Mädchen. Wie in den Monaten und Jahren zuvor verkrampfte sie sich und wartete darauf, dass ihre leibliche Mutter sie hineinschubste, wo sie von der hass- und ekelerfüllten Grimasse ihres Vaters empfangen wurde.
Doch diesmal ging es anders aus.
Rheenas leibliche Mutter räusperte sich; ihre Stimme bebte vor Zaudern. »Sollen wir sie diesmal wirklich aufhalten?« Keine Antwort. »Ich meine, sie sehnt sich so nach Oben, dass sie sich irgendwann mal ein Bein rausreißt, nur um mal da raufzukommen. Wär’s nicht besser, du lässt sie einfach gehen?« Die leibliche Mutter redete hastig weiter, um keine unerwünschte Unterbrechung zu erlauben. »Niemand wird sie je wählen, um sich mit ihr fortzupflanzen, und sie sieht zu schlecht, um auch nur einfache Aufgaben in einem Haushalt und für einen Mann zu erledigen. Wir haben sie für immer am Hals, und alle werden dich und mich ewig ansehen, als wären wir nicht besser als die, welche nie wachsen. Ehrlich, du hast für dieses Mädchen getan, was du konntest. Deshalb frage ich noch mal: Willst du sie tatsächlich aufhalten?«
»Nein.«
Ein Wort entschied über ihr Schicksal.
Ein Wort bewies Liebe.
Ein Wort: frei.
Ihre leibliche Mutter, die Urheberin von Rheenas neuem
Ziel, stürmte aus ihrer Höhle, packte das Mädchen grob am Arm, zerrte sie einen modrigen Flur entlang und warf sie in ein großes Loch unter der Erde. Mit hasserfüllter Genugtuung hinterließ ihre leibliche Mutter den leuchtenden Bewohnern des festen Bereichs eine strenge Anweisung: »Sie soll mit euren Männern nach Oben gehen, wenn sie jagen. Sie soll nicht zurückkommen.« Rheena bekam nichts von der Frau, als sie wegging.
Umgeben von Jägern.
Umgeben von Angst.
Sie warteten, bis der letzte Schein der Sonne geschwunden war. Es gab keine Bedrohung durch die Anderen, wenn die Nacht eingesetzt hatte. Die hochgewachsenen Wesen konnten in Abwesenheit ihrer Sonne nicht überleben. Denn ein Schritt in die Zeit des Mondes, in die Dunkelheit, weckte den Schnitter.
Die Männer von Unten begannen dicht aneinandergedrängt ihren Aufstieg.
Die Masse erhitzte sich durch Testosteron und Tötungsfantasien. Rheena wurde betatscht, gestoßen und vorwärtsgeschubst, während sie
hinauf
hinauf
hinauf
marschierten, aus ihrem Loch heraus.
Ameisen.
Drei
Kühle Luft, noch sonnengesprenkelt, umwirbelte das aus der Erde geborene Mädchen. Jäger schwärmten aus, während sie dastand, reglos und dankbar.
Endlich.
Unerfahren und jung, hatte sie keinen Plan.
Nur Hoffnung.
Immer Hoffnung.
»Rheena.« Ihr Erdname schwebte, küsste den Himmel und murmelte Abschiedsworte. Zuhause. Habe ich dich gefunden?
Licht vom aufgehenden Mond streichelte ihr dunkles Haar. Ließ es schimmern wie Onyx. Die Namenlosen sahen sich um. Ihr alter Stamm schoss Pfeile von Ärger und Hass
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