Verdammte Deutsche!: Spionageroman (German Edition)
Mittelpunkt Londons sein soll. Er schlängelt sich durch den Verkehr, schreitet quer über den Trafalgar Square, nicht ohne einen Blick auf Admiral Nelson auf seiner hohen Säule zu werfen, und hält auf die imposante Fassade der National Gallery zu. Der weite Platz wimmelt von Menschen. Spaziergänger, Londonbesucher aus aller Herren Länder, Angestellte und Clerks in Schwarz oder Grau, eilige Boten, eine Schar Schulkinder um eine Lehrerin versammelt, ein paar Pflasterer bei der Arbeit.
Von Polizisten abgesehen, ist hier fast nie jemand in Uniform zu sehen. Das fällt ihm nicht zum ersten Mal auf. Uniformen sind in England fast schon verpönt, hatte Widenmann in Portsmouth bemerkt. Das Militär gilt als unproduktiv. Selbst Offiziere ziehen nach Dienstschluß Zivilkleidung an; die Arbeiterklasse sieht in ihnen Schmarotzer, die man miternähren muß.
In Kiel, in Berlin, ja im ganzen Deutschen Reich sind Uniformen allgegenwärtig. Der Bunte Rock verleiht auch dem kleinen Mann Ansehen und sogar eine gewisse Macht. Seiler denkt an den Hauptmann von Köpenick, vor fast fünf Jahren. Typisch Heer! Kann auch nur denen passieren.
Inzwischen hat er den St. Martin’s Place erreicht und eilt im Zickzack zwischen den zahllosen Pferdeomnibussen hindurch, die mit ihren überladenen offenen Oberdecks, gekrönt von Dutzenden von Sonnenschirmen, noch höher wirken und gefährlich topplastig daherschwanken. Es wird ihm warm in seinem Anzug, die Sonne brennt erbarmungslos herab. Gegenüber von Wyndham’s Theatre biegt er in eine gepflasterte Gasse ein, die den Namen Cecil Court trägt und so schmal ist, daß sie noch ganz im Schatten liegt. Etwa in der Mitte bleibt er vor einem Laden stehen, dessen Tür und Schaufensterrahmen dunkelblau gestrichen sind. Darüber steht in handgroßen Messingbuchstaben: J. Peterman · Naval & Maritime Books . Er mustert kurz die ausgestellten Bücher in dem kleinen Fenster, dann greift er nach dem Türknauf.
Eine Glocke schlägt an, als er eintritt und seinen Hut abnimmt. Nach dem grellen Sonnenlicht dauert es einen Moment, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Gott sei Dank ist es einigermaßen kühl. Der Laden ist klein, ein schmaler, langer Raum, an beiden Längswänden bis unter die Decke Buchregale. Links führt eine Stiege in den Keller, ein Pfeil weist hinunter und daneben steht: Downstairs First Editions; Charts & Tables. Ganz hinten ein großer Glasschrank, ebenfalls voller Bücher, alte und wertvolle Bände vermutlich, hinter den Scheiben schimmern Goldbuchstaben. Der Raum hat eigentlich fünf Ecken, denn ein Teil der Rückwand ist abgeschrägt. Sie ist mit dem gleichen Holz getäfelt, aus dem auch die Regale sind, und mit Bildern geschmückt, alles Schiffsportraits in dünnen schwarzen Holzrähmchen. Daneben eine offene Tür, die wohl ins Kontor führt, und von dort kommt ein Mann in Weste und Hemdsärmeln auf ihn zu. Er ist kleiner als Seiler, aber von kräftiger Statur, mit rotem Gesicht, grauhaarig, mit gestutztem grauem Vollbart. Er sieht so aus, wie man sich den Kapitän eines Passagierdampfers vorstellt. Vertrauenerweckend.
» Good Morning, Sir!«, grüßt er. » Julius Peterman, zu Ihren Diensten!«
Seiler stellt sich vor und erläutert sein Anliegen. Zusammen gehen sie Widenmanns Bestellung von Büchern, Seekarten und Tidentabellen durch. Peterman schlägt sein Bestellbuch auf und greift nach dem Bleistift, da erscheint eine junge Frau in der Tür zum Hinterzimmer.
» Da ist dein Tee, Vater«, sagt sie und stellt ein kleines Tablett mit einer dampfenden Tasse und einem Zuckerdöschen auf den Schreibtisch. Sie deutet einen Knicks zu Seiler hin an, und er verbeugt sich knapp. Nur einen kurzen Moment sehen sie sich an, dann schlägt sie die Augen nieder und wendet sich halb ab.
Wie hübsch sie ist! Große Augen in einem schmalen Gesicht unter hochgesteckten braunen Haaren. Sie ist schlank, beinahe mager, und trägt einen bodenlangen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse. Wie alt mag sie sein? Achtzehn oder neunzehn, schätzt er, sicher nicht älter.
Petermans Stimme dringt wie aus großer Entfernung an seine Ohren: » Wird eine gute Woche dauern, denke ich mal. Die Karte der Forth-Mündung werde ich aber spätestens morgen abend hier haben. Der Herr Kapitän kann sie übermorgen zusammen mit seiner Bestellung vom letzten Mittwoch abholen lassen.«
Seiler murmelt etwas Zustimmendes, und da sich der Buchhändler gerade über die Liste beugt, wagt er es, über
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