Verdeckt
Lacey aus der Küche stürzte. Würgend hing sie über der Toilette und war dankbar, dass sie in den letzten Stunden so gut wie nichts gegessen hatte.
Als die Polizisten mit Laceys Handy und dem Protokoll ihrer Aussage wieder gingen, war das Essen kalt. Die Männer machten sich trotzdem darüber her und drängten Lacey, sich auch etwas zu nehmen. Aber ihr war der Appetit gründlich vergangen. Wie konnten die beiden nach dem Anblick der Angelhaken auch nur einen Bissen hinunterbringen? Alex und Jack hatten sich den kurzen Film mehrmals angesehen. Lacey war schon nach dem einen Mal komplett bedient gewesen.
Alex aß hastig, dann entschuldigte er sich. Er sagte, er müsse einen dringenden Anruf erledigen. Danach verschwand er im Flur. Das Telefonat führte er von seinem Schlafzimmer aus. Lacey hörte, wie er die Tür hinter sich zuzog. Sie und Jack blieben allein am Tisch zurück. Zwischen ihnen standen einige halb leergegessene Pappschachteln. Die Männer hatten ordentlich zugelangt. Trotzdem blieben Alex genügend Reste für ein paar weitere Tage.
Anscheinend fand er Lacey inzwischen ein wenig sympathischer. Jedenfalls hatte er auf das Video sehr ärgerlich reagiert und schien sich ernsthaft um ihre Sicherheit zu sorgen. Während des Essens hatten zwar fast nur er und Jack geredet, aber er hatte Lacey ein paar Fragen zu DeCosta gestellt.
Jetzt wünschte Lacey sich Alex zurück in das stille Esszimmer. Er taugte gut als Puffer zwischen ihr und Jack. Jack einfach zu ignorieren, war unmöglich. Er gehörte zu den Menschen, die allein durch ihre Anwesenheit einen Raum füllten. Seine männliche Aura drang bis in den letzten Winkel des kleinen Zimmers. Keine Frau konnte ihm gegenübersitzen, ohne die Wirkung körperlich zu spüren. Das heiße Kribbeln, das Lacey plötzlich durchrieselte, überraschte sie. Wie war das möglich, wo sie doch gerade erst die grauenhaftesten Bilder ihres Lebens gesehen hatte?
Die schlichte Antwort lautete, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, und das fand sie beängstigend.
Dieser Mann benahm sich gegenüber Frauen wie ein Kind, das man in einem Bonbonladen allein ließ. Er naschte hier und da, fand einen Geschmack schnell fad und griff nach einer anderen Süßigkeit. Der Artikel im
Portland Monthly
hatte keinen Zweifel daran gelassen: Bindungsfähigkeit war für Jack Harper ein Fremdwort.
So einen Mann brauchte sie nicht.
»Magst du kein chinesisches Essen?«
»Doch, schon.« Lacey verzog das Gesicht. »Mir ist bloß der Appetit vergangen.«
Jack legte die Gabel weg und sah sie forschend an. »Und was magst du sonst noch?«
»Mexikanisch, italienisch …«
Er schüttelte den Kopf. »Ich spreche nicht vom Essen. Ich weiß überhaupt nichts über dich. Nicht, welche Musik du gern hörst, auf welcher Highschool du warst oder wodurch du deine Mutter verloren hast.«
Sie blinzelte. Jack Harper wollte wissen, wie sie tickte. Lacey musterte ihn und fragte sich, was für Absichten er hatte. Er schien es ernst zu meinen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr das letzte Mal jemand derart persönliche Fragen gestellt hatte. Weil sie sich von Beziehungen so lang ferngehalten hatte, hatte sie vergessen, wie man mit einer anderen Person Vertrautheit entwickeln konnte. Sie lebte schon zu lang sehr zurückgezogen. Die einzigen Menschen, die sie wirklich kannten, waren Michael und Amelia. Und Kelly.
Beim Gedanken an ihre verschwundene Freundin traten Lacey Tränen in die Augen.
»Ach, Mist. Ich wollte meine Nase nicht in Dinge stecken, die mich nichts angehen. Ich habe gar nicht daran gedacht, dass meine Fragen dir wehtun könnten. Ist es wegen deiner Mom?« Jack sah ziemlich betroffen aus.
Lacey drückte sich eine saubere Serviette an die Augen, dann tupfte sie sich damit die feuchte Nase ab. Verdammt. Vor anderenLeuten zu weinen, war ihr zuwider. »Nein. Das ist nicht das Problem.« Sie versuchte, sich damenhaft zu schnäuzen. Unmöglich. »Es ist wegen Kelly. Lieber Gott. Was macht er jetzt mit ihr?« Neue Tränen stiegen ihr in die Augen.
Lacey hatte so etwas schon einmal durchgemacht. Damals nach Suzannes Verschwinden war sie jahrelang wie eine Schiffbrüchige auf dem Was-wenn-Ozean getrieben. In ihrer Fantasie hatten sich die schrecklichsten Szenarien abgespielt. Die Zeitungsartikel, in denen von den Folterspuren an den ermordeten Mädchen die Rede war, waren zur Vorlage für ihre Alpträume geworden.
»Ich wollte dich nicht an sie erinnern. Es tut mir leid.«
»Ich weiß, dass
Weitere Kostenlose Bücher