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Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Unterseite des Decks betrachtete: Trotz der Last, die darauf lag, hatte es nicht nachgegeben. Stattdessen war die ganze Schute in den weichen Schlick gepresst und ein bisschen schräg geneigt worden, sodass der Bug in der benachbarten Tunnelkammer ein wenig höher aufragte als das Heck. Hier hinten lag der Wasserspiegel weniger als dreißig Zentimeter unterhalb der Unterseite des Decks, aber wegen der Schräglage war das Deck zum Bug hin aufwärts geneigt, und deshalb nahm die lichte Höhe darunter zu, je weiter man nach vorn kam.
    Nach ungefähr zweieinhalb Metern fiel der Lichtstrahl auf ein Schott, das den Weg zum Bug versperrte. Flea leuchtete im Rumpf umher und suchte nach einem Ausgang. Das Licht ließ die Nieten und herabhängenden Spinnweben unter der Decke scharf hervortreten und fiel auf schwimmenden Müll aller Art: Plastiktüten, Cola-Dosen, etwas, das pelzig aussah. Wahrscheinlich eine aufgedunsene tote Ratte. Aber nirgends gab es eine Luke oder ein Loch. Sie schaltete die Lampe aus, und diesmal brauchten ihre Augen nicht lange, um sich an die Veränderung zu gewöhnen. Sie sah sofort, woher das Tageslicht kam: Im Schott schimmerten die Umrisse eines Rechtecks. Sie ließ alle Luft aus der Lunge. »Du gottverdammtes, wunderschönes Scheißdreckding.«
    Eine Luke im Schott, halb unter Wasser. Wahrscheinlich hatte sie dazu gedient, die Kohlen aus einem Laderaumabteil ins nächste zu schaufeln. Und es gab absolut keinen Grund, weshalb sie verriegelt sein sollte. Der Entführer hatte sich nicht im benachbarten Tunnelabschnitt aufgehalten, als sie sich dort befand, aber das hieß nicht, dass er in den letzten paar Stunden nicht gekommen war. Trotzdem gab es nur zwei Optionen: Sie konnte durch die Schute kriechen und ihm entgegentreten oder hier unten in diesem Loch verrecken.
    Sie wühlte ihr altes Schweizer Armeemesser und den Festmachhaken, den sie neulich gefunden hatte, aus dem Rucksack und stopfte beides in den kleinen wasserdichten Schnürbeutel, den sie am Handgelenk trug.
    Dann spannte sie das Gummiband der Helmlampe um den Kopf und kniete sich in den Schlamm. Langsam ließ sie sich hineinsinken, bis das Wasser ihr an die Brust reichte. Auf den Knien kroch sie in den Rumpf, streckte die Hände unter Wasser vor sich aus und fuhr im Bogen hin und her, um Hindernisse zu ertasten. Ihr Kopf streifte die rostverkrusteten Spinnweben; sie reckte das Kinn hoch und hielt den Mund über Wasser. Falls der Kerl sich im nächsten Tunnelabschnitt aufhalten sollte, brauchte sie nicht zu befürchten, dass er den hüpfenden Lichtstrahl ihrer Lampe sähe, denn auf der anderen Seite wäre es dafür zu hell. Aber vielleicht würde er sie hören. Mit den Fingerspitzen berührte sie den Festmachhaken und vergewisserte sich, dass er griffbereit war.
    Sie bewegte sich vorsichtig und atmete mit offenem Mund. In der Enge konnte sie den bitteren Geruch ihres eigenen Atems riechen, den Geruch einer Nacht voller Angst, vermischt mit dem leicht teerigen Aroma von Kohle, das der Schute anhaftete.
    Sie erreichte das Schott und stellte fest, dass die Luke mindestens einen halben Meter unter Wasser lag. Den größten Teil konnte sie durch ihre Handschuhe fühlen, den Rest musste sie mithilfe der klobigen Kappen ihrer Stiefel erahnen. Unten, auf halber Höhe der Nahtstelle, fand sie einen Riegel: Er war offen. Das Einzige, was die Luke geschlossen hielt, war, soweit sie es erkennen konnte, der Rost aus mehreren Jahrzehnten. Der Wasserdruck war zu beiden Seiten gleich. Wenn sie auf dieser Seite alles sauber machte, müsste es möglich sein, sie zu öffnen. Der Trick bestand darin, es möglichst weit unten zu tun.
    Die Zunge zwischen den Zähnen, schob sie die Klinge des Schweizer Armeemessers in den Spalt zwischen Luke und Schott und brach leise den Rost heraus. Den Schlamm am Boden räumte sie mit den Füßen beiseite. Sie wagte nicht, die Handschuhe auszuziehen; ihre Finger waren steif und schmerzten, als sie sie um den Rand der Luke krümmte. Sie hob einen Fuß, stemmte ihn gegen das Schott und leitete ihre ganze Energie in die Finger. Mit den Zähnen knirschend, begann sie zu ziehen. Das Knacken kam plötzlich, und es war laut. Ein Wölkchen Rost rieselte wie Konfetti auf sie herab, und ein Schwall wärmeres Wasser schlängelte sich durch die Luke und um ihren Bauch.
    Das Geräusch der aufspringenden Luke traf ihr Ohr wie ein Faustschlag. Es war zu laut, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten verließ sie der Mut. Sie konnte sich nicht

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