Verderbnis
Caffery kehrte zurück in den Flur. Von dem ätzenden Dunst tränten ihm die Augen.
»Sind die Sanitäter unterwegs?«, schrie er über das Treppengeländer. »Ich will’s hoffen. Und zum zweiten Mal: Kann jemand die gottverdammten Fenster aufmachen?« Er blieb stehen und schaute zum Ende des Treppenabsatzes. Ein Officer – Wellard, noch immer mit heruntergeklapptem Visier – stand erneut in einer offenen Tür, jetzt im vorderen Teil der Wohnung. Das musste das Zimmer sein, das auf die Straße führte. Wellard winkte langsam. Aber er winkte, ohne sich umzudrehen, denn das, was er vor sich sah, schien ihn zu faszinieren.
Einen Augenblick lang empfand Caffery nichts als Angst. Er wollte einfach nur weg von hier. Er wollte um keinen Preis wissen, was Wellard da sah.
Das Herz klopfte hart in seiner Brust, als er zu Wellard ging und neben ihm blieb. Das Zimmer vor ihnen lag im Dunkeln. Die Fenster waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Der chemische Geruch war viel stärker hier. Zwei Betten standen im Zimmer: ein leeres unter dem Fenster und ein zerwühltes Doppelbett, auf dem eine Frau lag. Mit ihren wirren dunklen Haaren sah sie aus wie Janice Costello. Ihr Rücken hob und senkte sich.
Caffery drehte sich zu Wellard um, und der blickte ihn sonderbar an. »Was ist denn?«, zischte er. »Das ist eine Frau. Haben Sie etwas anderes erwartet?«
»Nein, aber was ist mit dem kleinen Mädchen? Ich hab zwei Frauen und einen Mann gesehen, aber kein kleines Mädchen. Sie vielleicht?«
50
Ü ber dem winzigen Dörfchen Coates dämmerte der Morgen herauf. Es war eine halbherzige Morgendämmerung ohne orangegelbe Tupfen am Himmel, nur ein konturloses, aschgraues Licht, das matt über die Dächer kroch, vorbei am Turm der kleinen Kirche und über die Wipfel der Bäume und dann wie ein Dunstschleier auf eine winzige Lichtung tief im Wald von Gut Bathurst. In einem von Gras umwucherten Luftschacht, dreißig Meter über dem Kanaltunnel, kroch die schwarze Grenze zwischen Tag und Nacht langsam nach unten. Auf ihrem Weg in den Bauch der Erde erreichte sie eine Höhle, die zwischen zwei Erdeinbrüchen in einem kurzen Tunnelabschnitt entstanden war. Das diffuse Licht erreichte das schwarze Wasser und malte einen Schatten unter den Seesack, der bewegungslos am Ende eines Seils hing, und dann legte es sich auf Felsbuckel und Geröll.
Flea Marley auf der anderen Seite der Einsturzstelle nahm nichts von der Morgendämmerung wahr. Sie nahm überhaupt nur die Kälte und die Stille der Höhle wahr. Sie lag auf einem unebenen Sims am Fuß des Erdrutsches. Zu einer Kugel zusammengerollt wie ein fossiler Ammonit, presste sie das Kinn an die Brust und die Hände unter die Achseln, um sich warm zu halten. Sie schlief halb. Die Dunkelheit drückte auf ihre Augenlider, hinter denen Lichter und seltsame, pastellfarbene Bilder tanzten.
Kein Licht vorläufig. Die große Taschenlampe und die kleine Helmlampe waren alles, was den Einsturz überstanden hatte. Sie schaltete sie nicht ein, um die Batterien zu schonen, bevor sie schließlich zu Dads alter Karbidlampe greifen müsste. Zu sehen gab es hier sowieso nichts. Sie wusste, was der Lichtstrahl beleuchten würde: ein klaffendes Loch in der Tunneldecke, wo tonnenweise Erde und Gestein herausgebrochen waren. Der ganze Schutt hatte den Boden an manchen Stellen um einen Meter erhöht und die alten Geröllhänge an beiden Enden des Tunnels mit Erde und Steinen bedeckt. Ihre Fluchtwege waren beide zugeschüttet, und diesmal genügten die Hände zum Graben nicht. Sie hatte es versucht, bis zur Erschöpfung. Nur mit einem Presslufthammer und einer Planierraupe könnte man einen Tunnel durch diese Barrieren graben. Wenn der Entführer auftauchen sollte, würde er nicht mehr an sie herankommen. Aber das war praktisch ohne Bedeutung, denn für sie gab es kein Zurück mehr. Sie saß in der Falle.
Immerhin, sie fand hier unten eine ganze Menge heraus. Zum Beispiel: Wenn man dachte, es könne nicht mehr kälter werden, fror man bald noch sehr viel mehr. Sie fand heraus, dass sogar in aller Herrgottsfrühe Züge auf der Strecke der Cheltenham and Great Western Union Railway verkehrten. Güterzüge, nahm sie an. Alle Viertelstunde donnerte einer vorüber und erschütterte die Erde, sodass ein paar Steine aus unsichtbaren Ritzen in den Tunnel herabfielen. Zwischen den Zügen döste sie unruhig vor sich hin und erwachte wieder, fröstelnd und wie elektrisiert von Angst und Kälte. An ihrem Handgelenk
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