Verderbnis
tickte die wasserdichte Citizen-Armbanduhr die Minuten herunter und zählte die kleinen Schritte ihres verstreichenden Lebens.
Jack Cafferys Bild tauchte in ihrem Kopf auf. Nicht Jack Caffery, der sie anschrie, sondern Jack Caffery, der leise mit ihr sprach. Die Hand, die er ihr einmal auf die Schulter gelegt hatte – die Wärme war durch ihr Shirt gedrungen. Sie hatten in einem Auto gesessen, und damals hatte sie gedacht, er habe sie berührt, weil sie in einer offenen Tür stand, bereit, durch sie in eine ganz neue Welt zu treten. Aber das Leben duckte sich weg und schlug seine Haken, und nur die Stärksten und Fähigsten flogen dabei nicht gelegentlich aus der Kurve.
Dann erschien Misty Kitsons Gesicht vor ihr, lächelnd auf den Titelseiten der Zeitungen, und Flea dachte, vielleicht war das der ganz große Haken: Weil sie und Thom erfolgreich verschleiert hatten, was mit Misty geschehen war, hatte jemand Höheres entschieden, dass sie bezahlen mussten. Es war eine Ironie des Schicksals, dass sie am Ende damit bezahlen sollte, in einer Gruft zu liegen wie Mistys Leiche.
Jetzt regte sie sich. Sie zog die eiskalten Hände unter den Achseln hervor und tastete nach dem Handy in der wasserdichten Tasche des Neoprenanzugs. Kein Netzkontakt. Keine Chance. Sie kannte die Pläne, wusste ungefähr, wo sie sich befand, und hatte mit rasender Geschwindigkeit Dutzende von SMS getippt und an jeden adressiert, der ihr eingefallen war. Aber alle diese Nachrichten warteten im Postausgang und waren als »noch nicht gesendet« markiert. Weil sie befürchtete, der Akku könnte den Geist aufgeben, hatte sie das Telefon schließlich ausgeschaltet und in seine Plastikhülle zurückgeschoben. Elf Uhr, hatte sie Prody hinterlassen. Das war sieben Stunden her. Irgendetwas war schiefgegangen. Er hatte die Nachricht nicht erhalten. Und wenn dem so war, sah Gottes brutale Wahrheit folgendermaßen aus: Die Markierungsleine lag im Tunneleingang. Den Wagen hatte sie ganz am Rand des Dorfangers abgestellt, wo er nicht auffallen würde. Es konnte Tage dauern, bevor jemand das eine oder andere bemerkte und daraus schloss, wo sie sein könnte.
Mit schmerzenden Gliedern entrollte sie sich. Sie rutschte zur Seite, spreizte die Beine und glitt die letzten paar Handbreit über den Geröllhang hinunter. Das Klatschen ihrer Stiefel im Wasser hallte durch die dunkle Kammer. Sehen konnte sie nichts, aber sie wusste, dass Müll im Wasser schwimmen musste. Müll, der durch den Luftschacht hereingefallen war, bevor der Einbruch die Kammer verschlossen hatte, und der dann dahin getrieben war, wo sie jetzt stand. Sie zog die Handschuhe aus, bückte sich, schöpfte ein wenig Wasser in ihre eiskalten, aufgeschürften Hände und schnupperte daran. Es roch nicht nach Öl. Es roch nach Erde, nach Wurzeln und Blättern und sonnendurchfluteten Lichtungen. Prüfend tauchte sie die Zunge hinein. Es schmeckte leicht metallisch.
Etwas Dunkles lag in ihrem Augenwinkel. Sie ließ das Wasser von den Händen tropfen und drehte sich steif nach links.
Ungefähr drei Schritte neben sich machte sie ein kaum wahrnehmbares, geisterhaftes Licht aus. Sie fuhr herum und fiel taumelnd gegen den Erdrutsch, suchte hastig nach ihrem Rucksack und zerrte die Höhlenlampe heraus. Sie legte eine Hand vor die Augen und entzündete die Lampe. Mit einem Wuummmp erstrahlte die Höhle in hellem Licht. Alles war blauweiß umrissen – zu groß, die Konturen zu scharf. Sie ließ die Hand sinken und richtete den Blick dahin, wo sie den Lichtschimmer entdeckt hatte. Es war der Rumpf des gesunkenen Lastkahns.
Sie schaltete die Lampe aus und starrte weiter auf den Kahn. Langsam verblassten die Formen und Brandflecken auf ihrer Netzhaut. Ihre Pupillen weiteten sich wieder. Und jetzt war kein Irrtum mehr möglich: Tageslicht schimmerte von der anderen Seite des Erdrutsches durch den Kahn.
Sie schaltete die Höhlenlampe erneut ein und bohrte sie so in den Lehm, dass sie den Rand des Schuttbergs beleuchtete, während sie ihre Ausrüstung wieder einpackte. Sie zog ihre Handschuhe an, schulterte den Rucksack, watete zu der Schute, hockte sich davor, schob die Lampe hinein und leuchtete umher. Der Kahn lag unter den Erd- und Gesteinsmassen, und der Bug ragte in den Teil des Tunnels hinein, wo sich der Luftschacht befand. Er musste schon vor über hundert Jahren gebaut worden sein: Rumpf und Deck bestanden aus zusammengenieteten Eisenplatten. Gute Ingenieure, die Viktorianer, dachte sie, als sie die
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