Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
müssen?«
»Habe ich schon erledigt. Da ist ein Halbbruder, Rudolf Krobat, der in München lebt. Ich habe mit ihm bereits gesprochen, er weiß Bescheid. Er kann es überhaupt nicht fassen. Ich übrigens auch nicht.«
»Und es gibt keine Verwandten in England?«
»Nein, jedenfalls keine direkten.«
Hauptkommissar Wächter überlegte kurz. »Da fällt mir ein, wir müssen auch die englische Botschaft verständigen. Wahrscheinlich haben wir dann auch noch unsere Freunde von Scotland Yard mit im Boot. Das wird lustig, so richtig international. Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht?«
21
E ineinhalb Stunden nach Sonnenuntergang hatte ich die Öffnung vollendet, nicht indem ich die Bretter brach, sondern indem ich sie aufrieb. Das Loch war ziemlich groß und nur noch durch die Bleiplatte bedeckt, die ganz freilag. Ich ließ mir von Pater Balbi helfen, sie hochzustemmen. Dann bogen wir sie mit unseren Schultern so weit auf, dass die Öffnung für das Hindurchschlüpfen ausreichte. Ich steckte den Kopf durch das Loch …«
Mark Hamilton klappte das Buch zu. Seine Entführer hatten wirklich einen seltsamen Humor, ihm als einzige Lektüre ein deutschsprachiges Taschenbuch zu geben, in dem Giacomo Casanova seine Flucht aus den Bleikammern von Venedig beschrieb.
Mark Hamilton lag auf einer Pritsche in einem fensterlosen Kellerraum. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne, die für kaltes Licht sorgte. Die Tür war aus Metall und machte einen außerordentlich soliden Eindruck. In der Ecke stand eine Chemietoilette. Das war’s. Nicht gerade das, was man eine wohnliche Unterkunft nennen würde. Und weit und breit kein Pater Balbi, der ihm bei der Flucht helfen könnte.
Da kein Tageslicht zu sehen war, vermochte er die Uhrzeit nicht abzuschätzen. Und eine Armbanduhr hatte er im Bett nicht angehabt. Er strich sich über die Wangen. Nach den kurzen Stoppeln zu urteilen, war er vielleicht zwei Tage in der Gewalt seiner Entführer. Geradezu lächerlich wenig im Vergleich zu Giacomo Casanova, der es – wie er soeben gelesen hatte – ein ganzes Jahr in den berüchtigten Bleikammern hatte aushalten müssen. Wegen Magie, Freimaurerei, Gotteslästerung und Unzucht war er zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte sich nichts dergleichen zu Schulden kommen lassen. Na ja, jedenfalls gemessen an den heutigen Moralvorstellungen. Und im Vergleich mit den unzähligen Liebesabenteuern des Chevalier de Seingalt kam ihm sein nicht gerade tristes Sexualleben fast mönchisch vor.
Immerhin gab es keine Ratten in diesem Verließ. Nur einen Skorpion, den er aber mit Hilfe von Giacomo Casanova bereits ins Jenseits befördert hatte. Hoffentlich gingen seine Entführer mit ihm rücksichtsvoller um. Bis jetzt konnte er sich nicht wirklich beklagen. Ab und zu sah ein maskierter Mensch nach ihm. Er hatte ihm den Namen Lorenzo gegeben, nach dem Wärter von Giacomo Casanova. Lorenzo brachte ihm nicht nur Wasser, sondern hatte ihn sogar einmal mit Rotwein versorgt, der gar nicht schlecht schmeckte. Außerdem hatte es einige Male Brot und Ravioli gegeben. So gut hatte es Casanova unter den Bleidächern des Dogenpalastes nicht gehabt. Eine Reissuppe, gekochtes Rindfleisch, Braten, Obst, Brot, Wein und Wasser hatte der Bonvivant im Kerker nach seiner Einlieferung verlangt. Bekommen hatte Casanova stattdessen zunächst mehrere Klistiere mit Gerstenaufguss, um sein plötzliches Fieber zu senken. Mark erinnerte sich von seinem letzten Venedigaufenthalt an die Seufzerbrücke, die den Dogenpalast mit den Gefängnissen verbindet. Ihr Name soll von den Seufzern der Gefangenen herrühren, die über diese Brücke geführt wurden. Ende des 16. Jahrhunderts wurden diese neuen Gefängnisse, Prigioni Nuove, gebaut.
Piombi
wurden jene Zellen genannt, die sich direkt unter dem Dach aus Blei befanden.
Mark überlegte, dass Casanovas Leben im Grunde nichts anderes als ein großes Glücksspiel gewesen war. Der Schauspielersohn, geboren 1725 in Venedig, war ein hochgebildeter Hasardeur, der keine Risiken scheute, weder bei der Wahl seiner Liebschaften noch bei seinen sonstigen Aktivitäten. Magier war er gewesen, Alchimist, Priesteraspirant, Falschspieler, Hochstapler. Die Memoiren, die Giacomo Casanova im Schloss Dux in Böhmen, wo er seinen Lebensabend verbrachte, niederschrieb, hatte Mark Hamilton natürlich nie gelesen – wer tat das heute schon. Aber Federico Fellinis Casanova-Film hatte er gleich mehrmals gesehen. Unvergleichlich Donald
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