Vereister Sommer
sehen, Ereignisse zu spüren, die sie nicht spüren wollte, bevor sie nicht auch für andere sichtbar wurden, für jeden, der gleichfalls betroffen war davon. Aber die Gabe fragte nicht danach, was ihre Trägerin wollte oder nicht wollte. Sie machte aus ihr das Medium, das der Geist des Ereignisses offenbar brauchte, um Gestalt anzunehmen, bevor es Gestalt für alle werden konnte, als müsste es sich und seine Kontur zuvor erproben an einer einzelnen Seele, sie zum Botschafter einer Wirklichkeit machen, der mit den Grundrechenarten nicht beizukommen war und der man deshalb im normalen Leben mit Abwehr und Ignoranz begegnen durfte:
Fühlst Du nicht in dieser Stunde, daß irgendetwas mit mir ist?
Oder konnte die Mutter nur Leben erspüren, das gerade verging? Nicht jedoch Leben, das zurückkehrte ins Leben?
Nichts weniger als den Tod ihres eigenen Vaters, Franz Bartz, vor Jahrzehnten, hatte die Mutter ja wahrgenommen, als es zum ersten Mal geschah: sie ganz allein, und in genau jener Stunde, in der es passierte. Am 15. März 1916 war er gefallen, bei Dünaburg, an der Front in Russland, mit vierundvierzig Jahren, ein Arbeiter aus Stettin, der mit seiner Familie inzwischen in Berlin lebte. Da war sie fast einundzwanzig. In jenem Moment, als ein Querschläger ihm im vordersten Graben die Halsschlagader zerfetzte, musste er an sie, nur noch an sie, seine Tochter, gedacht, einen unsichtbaren Energiestrom |34| über die endlose Distanz hinweg zu ihr geschickt haben, der sie, unaufhaltsam wie eine sich materialisierende Wahrheit, in der kleinen Wohnküche in der Senefelder Straße am Prenzlauer Berg in Berlin erreichte, wo sie mit ihrer Mutter, der Weißnäherin Wanda Bartz, auch sie aus Stettin, beim Licht der Petroleumlampe saß, um Kleidung auszubessern und Strümpfe zu stopfen: Als sich plötzlich, vor ihren Augen, der hölzerne Schemel, der dort stand, damit die Mutter, wenn nötig, die Füße darauf entspannen konnte, in die Luft hob, eine scheinbare Ewigkeit so verharrte und dann wieder zu Boden sank, langsam, unübersehbar langsam. Für die durch und durch nüchterne junge Frau, die sie war, ein vollkommen verrücktes, irreales und zugleich gespenstisches Bild, das sie weder bestreiten konnte noch zu deuten vermochte in dieser Sekunde, aber sofort entschlüsselte, als wenige Tage später ein Feldpostbrief ins Haus kam, der die Nachricht vom Tode des Vaters enthielt, versehen mit einem Hinweis auf die genaue Stunde, in der das Unwiderrufliche geschehen war: Exakt zu jenem Zeitpunkt, der sie instinktiv auf die Uhr in der Küche hatte blicken lassen, als das unscheinbare Möbelstück von einer Sekunde zur anderen schwerelos wurde, allen Gesetzen von Raum und Zeit Hohn sprechend, und zu schweben begann, ihr Gesicht jedoch aschfahl, so dass die Mutter, die vom gespenstischen Vorgang nichts mitbekommen hatte, die sich die plötzliche Blässe auf dem Gesicht ihrer Tochter aber nicht erklären konnte, fragte, ob ihr schlecht geworden sei. Als sie verneinte, fragte die Mutter nicht weiter; so war sie: eine starke pommersche Frau, gutherzig, nüchtern, stolz. Doch das Kind dieser Frau wusste von nun an, dass es, wenn es darauf ankam, mehr sah als alle anderen um es herum, selbst wenn es mit ihnen in einem Raum zusammen saß. Dass der Vater, wegen eines Augenleidens, mit einem Entlassungsschein in der Tasche gefallen war, der ihm die dauerhafte Entfernung von der Front für den nächsten Morgen erlaubte, konnte man dem Brief ebenfalls entnehmen und auch, dass es |35| passiert war, weil er zur falschen Sekunde während der Abschiedsfeier seinen Unterstand verlassen hatte, um in einer Grabenecke sein Wasser abzuschlagen. Mit ihm hatte das Wort
Schicksal
nun jeden Abstraktionsgrad, aber auch jeden Glanz verloren: kein Heldentod, was dann? Es kulminierte vielmehr in vollendeter Absurdität, ja, demütigender Lächerlichkeit. Spätestens jetzt, hieß das, saß der Schmerz in ihrer Seele, und er würde nie mehr verschwinden, sondern in den Jahren, die folgten, sich anreichern, um weitere Schicksalsschläge winden. Er war zu trainieren wie eine einzige Herausforderung, seine wiederkehrenden Angriffe auszuhalten, seine Vernichtungskraft vor allem zu überstehen.
Von jener Art jedenfalls waren die meisten ihrer Geschichten mit dem zweiten Gesicht, für Kinder gruselig, für Erwachsene unglaublich. Aber weil sie selbst ein glaubwürdiger Mensch war, geachtet und geschätzt, glaubte man ihr, auch wenn man es nicht begriff, nicht für
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