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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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zu Herzen, denn die 10 J. sitze ich bestimmt nicht; ich lasse den Mut nicht sinken u. denke, daß ich bis zu meinem Geburtstg. spätestens bei Euch bin. Haltet Euch nur recht gesund. … Kopf hoch und fleißig Zeitg. lesen, viell. Gnadenerlaß.
Doch diese Prognose sollte sich in kürzester Zeit als bitterer Irrtum erweisen, wie sie in dieser Stunde auch ahnungslos war, was ihr noch zugemutet werden würde, bald, wenn es um den Kleinen ging, der seit wenigen Tagen bei ihr war und den sie am Schluss des Briefes der Zuneigung der ganzen Familie als neues Mitglied mit den Worten anempfahl:
Der kleine Ulli bittet seine Oma + Schwester, daß sie ihn recht lieb haben. Er liegt bei mir im Zimmer und wir
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werden bestens versorgt. Soviel Mühe gab man sich in der Klinik nicht mit uns.
    Natürlich hatten sich Hebamme und Ärztin um sie und ihren Sohn gekümmert, rührend, aufopferungsvoll, waren sie doch selber Häftlinge wie sie. Aber war nicht auch der Leiter des Gefängnisses, ein Kommandeur der Volkspolizei, der allerdings nicht lange Leiter blieb, weil sie ihn nicht ohne Grund den »Guten« nannten – war nicht sogar
er
an ihr Bett gekommen, hatte einen Moment lang geschwiegen, dabei mit ernstem Gesicht auf sie und den Kleinen geschaut und dann zu Ärztin und Hebamme, die in der Nähe abwarteten, mit leiser, aber klarer Stimme gesagt: »Sorgen Sie dafür, dass alles getan wird, damit er durchkommt.«?! Doch dann war es verschwunden, das Baby, ihr Kind, das bis dahin durchgekommen war, aus einer Zelle, die nicht abgeschlossen wurde. Auch Gitter vor dem Fenster gab es nicht: Neugeborene, so die menschenfreundlich klingende Begründung, seien im Unterschied zu den Strafgefangenen ja »Freiheitsmenschen«. Tagelang waren diese winzigen »Freiheitsmenschen« nun wie vom Erdboden verschluckt, verschwunden, einfach nicht mehr da. Wo waren sie dann? Das deutsche Wachpersonal jedoch gab keine Auskunft auf die Fragen der verzweifelten Frauen. Danach aber, weil eine der Mütter der verschwundenen Kinder ihren russischen Vernehmer, der sie auch noch in Hoheneck befragte, in ohnmächtigem Zorn von dem Vorfall berichtete und zugleich androhte, solange nicht mehr mit ihm zu reden, bis sie und die anderen wüssten, wo ihre Kinder seien – danach
wussten
die betroffenen Frauen sehr schnell, wo ihre Kinder waren: in einem Leipziger Kinderheim der Volkspolizei. Von dort konnten sie abgeholt werden, wenn es jemanden gab, der sie wollte. Aber damit war der Schmerz nur zur Hälfte betäubt, sie waren ja trotzdem nicht mehr bei ihnen.
     
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Strafvollzugsanstalt IV/5, den 12.   6.   51
     
    Liebe, liebe Mutti und mein Dorle! Post und Paket erhalten. Recht herzlichen Dank. Alles prima. Mutti, ich bin wieder allein, denn mein kleiner Sonnenschein hat mich verlassen. Am 6. 6. ist er ins Kinderheim nach L. gekommen. Frag nicht, was ich wieder durchgemacht habe. Mit meinem Kopf war es wieder sehr schlimm. Doch werde ich durch Arbeit etwas abgelenkt. Meine Arbeit ist gut u. sauber. Ich warte mit großer Ungeduld, daß mein kleiner Mücki zu Hause ist. Holen mußt Du ihn selbst. Und wenn es soweit ist, komme bitte noch hierher, denn ich habe hier noch sehr viel Kinderwäsche, die mitzunehmen ist. Marg. und Horst danke ich herzlich für alles und hoffe, daß ich es mal wieder gut machen kann. Kätes Brief gr. Freude gemacht. Mutti, es tut so furchtbar weh, durch eigene Schuld von den Kindern, von Euch allen fort zu sein. Hoffentlich kann ich bald nach Hause. Seid Ihr noch alle gesund? Bei Käte muß es jetzt schön sein. Meiner kleinen Neina wünsche ich alles, alles Gute zum Geburtstag und Gesundheit. Denkt ein bißchen an mich, wenn Ihr feiert. Meine Süße soll weiter lieb und artig sein u. Mama schenkt ihr viele Küßchen. Schreib sofort, wenn Nachr. von Ulli-Mücki. Mücki wog 11 Pfund, als er fortkam u. konnte schön Brei essen. Euch allen viele liebe Grüße von Wendi
     
    Ihr
Sohn war abgeholt worden, zum Glück – von ihrer Mutter, seiner Großmutter, deren Enkel nun einen Vornamen trug, der ihr, der mittlerweile Sechsundfünfzigjährigen, schmerzlich viel bedeutete:
Ulrich.
Es war der Name ihres eigenen, mit achtzehn Jahren als Funker in der Panzerschlacht bei Caen 1944 verschollenen Sohnes, ihres großen Kindes in der Uniform der Waffen-SS, um die es sich nicht gerissen hatte – mit leichenblassem Gesicht und tonloser Stimme hatte er sich bei der Verabschiedung zu Hause vor den Spiegel gestellt und gesagt: »Nun weiß ich, wie

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