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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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möglich hielt. Zuletzt fiel immer wieder jenes schwere, unheilschwangere Wort, dessen Wirklichkeit eben keiner entrinnen könne, ob Arbeiter, Kaiser oder Bettler, ob General oder einfacher Soldat: seinem
Schicksal.
Aber manch einer von ihnen, wenn es ihm denn widerfuhr, verfügte wohl doch über so etwas wie eine übermenschliche Kraft, dass er noch eine letzte lautlose Nachricht aufgeben konnte in die sichtbare, lärmende Welt, bevor er selber für immer in der unsichtbaren verschwand. Das war die einzige Erklärung für das Unerklärliche, auf die sich am Ende noch alle einigen konnten, geriet das Gespräch, das vielleicht mit den neuesten Höchstpreisen für Kartoffeln oder Kaffee begonnen hatte, wieder einmal auf dieses abseitige Lebensgelände, auf dem sie alle, wenn es darauf ankam, und es kam immer mehr darauf an in jener Zeit, mit dem Rücken zugewandt lebten, weil es so frontal im Raum stand. Noch jedes Mal wich deshalb eine gewaltige Last von ihnen, verließen sie die unheimliche Zone wieder und erreichten die Welt der vertrauten Zumutungen mit ihren steigenden Preisen für Fleisch und |36| Kaffee, Kohlen und Kartoffeln; billig blieben in jenen Jahren des ersten großen Krieges allein die Steckrüben, und sie verwandelten sich auf notgedrungen wundersame Weise in Steckrübeneintopf, Steckrübenmarmelade, Steckrübenkuchen. Der Mensch gewöhnt sich an alles, hatte die Mutter immer gesagt, die noch in Stettin geboren, aber in Berlin aufgewachsen war. Wenn es nüchtern klang, so war es in Wirklichkeit illusionslos. Und hatte sie nicht recht behalten?
    Ja und nein. Ja, der Mensch gewöhnt sich an vieles. Nein, an alles gewöhnte sich der Mensch zum Glück nicht. Dass sie ihre Tochter Dolores hatte zurücklassen müssen, von einem Tag zum anderen, ohne ein Abschiedswort, ohne Erklärung, ohne eine mütterliche Hoffnungsformel für das knapp zweijährige Mädchen mit den blonden Locken und den großen Augen, das war schon grausam genug, und es hatte nie aufgehört, sie, wie alle gefangenen Frauen in der gleichen Lage, in den Jahren, die nun blitzartig nach rückwärts davonschossen, zu quälen. Aber dass man ihr auch noch den Sohn weggenommen hatte, einfach so, als handele es sich um einen Gegenstand, ihr und den anderen jungen Müttern, die wie sie ein Kind in der Burg zur Welt gebracht hatten: Das hatte einen so barbarischen Schmerz ausgelöst in ihnen, der sie alle in jener Stunde, als sie das Liebste hergeben mussten, fast in den Wahnsinn trieb. Damals, in jenem Juni 1951. Der Junge: Ein Vierteljahr hatte sie ihn bei sich haben dürfen, den am 9. März, wenige Minuten nach Mitternacht und drei Wochen zu früh Geborenen. Auf kleinstem Raum hielt ihr Brief vom 10. März das ganze Glück fest, das mit ihm in ihre düstere Welt gekommen war:
     
    Liebe Mutti, mein liebes Dickerchen! Heute darf ich Euch 1 Sonderbrief schreiben und das hat seinen Grund; gestern ist nämlich mein kleiner Ulli geboren, nachts 0 Uhr 17. Es kam alles bißchen plötzlich, denn er ist 3 Wochen zu früh gekommen. Mach Dir um mich keine Sorge, mein Kleiner und ich sind hier
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in bester Pflege. Die Hebamme u. die Ärztin sind wirklich vorzüglich und mit dem Kleinen gibt man sich die größte Mühe. Er ist etwas zart, wog 5 Pfund 175 gr., 49 cm und war, so wie Dorli, eine Steißgeburt. Aber die Entb. war bedeutend besser als bei Dorli. Nun habe ich die Bitte, sende mir doch 3–4 Jäckchen und Wickeltücher, sowie Strümpfchen von Dorle und was Du sonst noch hast. Alles andere habe ich von hier bekommen. Und Seife sowie Seiflappen bitte auch. Daß mein Dorle sich so rausgemacht hat, ist mir 1 gr. Freude. Wann werde ich mein Mädelchen nur wieder in die Arme nehmen können? Alles andere im nächsten Brief. Gerda herzl. Glückwünsche zur Konfirmation und Euch Allen herzl. Grüße von Wendi und Mama
     
    Nur drei Tage später musste sie in ihrem regulären Monatsbrief der schönen Nachricht die hässliche folgen lassen, die zu Hause, das wusste sie, als sie es schrieb und, gemäß einer Vorschrift, mit rotem Stift unterstrichen hatte, einen Schock auslösen würde, größer und dauerhafter als jener, der nach ihrem plötzlichen Verschwinden geherrscht hatte: Ich bin vom Russ. Kriegsgericht wegen Verleitung zum Landeshochverrat
zu 10 Jahren Arb.Lg. verurteilt worden.
Dennoch verbreitete sie keine Untergangsstimmung in Richtung Familie, versuchte Kraft weiterzugeben durch tapfere Selbstermutigung:
Nimm Dir das aber um Gottes Willen nicht

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