Vereister Sommer
ein SS-Mann aussieht!« –, eines Kindes, das sie auch ein halbes Jahrzehnt danach noch immer |40| nicht verloren geben mochte. Sie ließ weiter nach ihm suchen, hielt sie es doch für möglich, ja, für wahrscheinlich, dass er in einem französischen Pflegeheim dahindämmerte, aufgefunden mit einer Hirnverletzung, ohne Kennmarke und Papiere, nicht wissend, wer er war und woher er kam. Hilflos dahinsiechend, ins Leere blickend, ins Nichts, aber vielleicht gab es noch Bilder in seinem Kopf, die ihn an etwas erinnerten, was sie, seine Mutter, ganz genau wusste. Vielleicht war er aber auch in der Fremdenlegion verschwunden, eingesetzt in Vietnam oder Nordafrika. Ein illustrierter Wochenkalender hatte sie darauf gebracht, darunter ein Foto, von, zugegeben, schlechter Qualität, das sie dennoch nie mehr fortwarf, aufhob bis zuletzt. Es zeigte junge Legionäre, die aus Deutschland und anderen europäischen Ländern stammten, verführte Abenteurer und Söldner des kapitalistischen Systems, wie die Bildlegende dazu wusste, in einem Flugzeug, auf dem Weg zu ihrem Einsatzort irgendwo in Algerien. Aber da war ein Gesicht in dieser Gruppe, ein ganz bestimmtes Gesicht: Wenn sie es ansah, wieder und wieder, gewann sie ihm alle vertrauten Züge und Merkmale des Jungen ab, der ihr Junge war und den sie so lange schon, ein im Herzen verkapselter Schmerz, so bitter vermisste.
Für die Zeit der Abwesenheit ihrer Tochter jedoch, die alle Warnungen in den Wind geschlagen hatte, und mit deren Einverständnis – sie selbst musste ja arbeiten, sich um Dolores, das andere Enkelkind, kümmern –, sollte der Kleine der engsten Freundin der Tochter und deren Mann anvertraut werden. Horst und Margarete Koch hatten keine Kinder und waren deshalb überglücklich, als der Junge zu ihnen kam. Ihr großes Glück hatte allerdings einen winzigen Fehler: Es basierte auf einem noch größeren Unglück. Aber wenn nichts mehr das Urteil korrigierte, das über die Freundin verhängt worden war, würde ihr Glück doch wenigstens ein ganzes Jahrzehnt halten, so lange, wie das Unglück währen sollte, das die Freundin getroffen hatte. Und heilte die Zeit nicht alle Wunden? Und welche |41| sollten den Jungen denn quälen, nach den wenigen Tagen Gemeinsamkeit mit seiner leiblichen Mutter in Hoheneck und so vielen Jahren Liebe, Hege und Pflege im weit von jener Burg entfernten Wismar, die sie ihm vorbehaltlos zu schenken gedachten, sie brannten ja förmlich darauf? Gewiss, bis jetzt waren sie nur seine Pflegeeltern, aber dann? Zehn Jahre sind eine lange Zeit, wer wusste schon, was bis dahin alles passieren konnte? Und an solch einem Ort? Nein, sie meinten es nicht böse, und sie wünschten der Freundin auch nichts Böses zu all dem Elend, in das sie geraten war; aber sie waren kinderlos, sie sehnten sich danach, Kinder zu haben, und nun hatten sie eines.
22. Januar 1954
Die Stunden vergingen, und je näher der Zug sie ihrem Ziel entgegenbrachte, umso wacher wurde sie, obwohl es draußen inzwischen dämmrig, ja, dunkel geworden war. In den Coupés hatte man längst das Licht eingeschaltet, ein warmer gelblicher Schein füllte das Abteil aus, in dem sie noch immer alleine saß, allein mit sich und ihrer Geschichte, die sie schließlich auch in diesen Zug getrieben und von dem sie plötzlich das Gefühl hatte, dass sie schon seit Jahren mit ihm durch ihr Leben fuhr.
Ludwigslust,
las sie, als er wieder einmal zu halten begann, mit quietschenden Rädern und dem nicht enden wollenden Zischen und Fauchen der Dampflokomotive. Als der Zug schließlich stand, vor einem weißen, imposanten Bahnhofsgebäude aus alten Zeiten, und sie die Zeiger der Bahnhofsuhr registrierte, die man von ihrem Abteil aus gut einsehen konnte, begriff sie aufgrund ihrer Stellung auf dem Zifferblatt sogleich, dass es nur noch knapp zwei Stunden dauern würde, bis sie zu Hause war, und es durchfuhr sie ein eigenartiges Gefühl. Es erfüllte sie nicht mit Angst wie zuvor, aber mit grenzenlosem Erstaunen: Halb fünf, dachte sie und begriff, dass die äußere Vergangenheit dabei war, sich |42| endgültig wie ein Spuk aufzulösen, wie ein langer Alptraum, der mit jedem Kilometer nach Norden mehr und mehr von ihr wich. Auch Magdeburg lag schon wieder drei Stunden hinter ihr. Jene Stadt, die sie nie kennengelernt hatte, in der ihr aber das Urteil gesprochen, mit ein paar Federstrichen über ihr weiteres Schicksal entschieden worden war: Drei Jahre war das her, drei Jahre, einen Monat und
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