Vereister Sommer
dreißig Tage; dennoch stand ihr, wenn sie daran dachte, noch immer jede Einzelheit vor Augen. Alles war ganz nah und weit weg zugleich. Zwei Wirklichkeiten in einer, aber nur eine Wahrheit in beiden.
19. November 1950
Die junge Frau, die sie sah, war sie selber: Vier sowjetische MGB-Soldaten mit schussbereiten Maschinenpistolen hatten sie aus ihrem Verlies im Häftlingstrakt des großen Gebäudes irgendwo in Magdeburg geholt und eskortierten sie nun aus der Zellenflucht halb unter der Erde ans Tageslicht. Ihre Füße steckten in löchrigen Herrensocken und leichten Schuhen, auf dem Leib trug sie das Sommerkleid, in dem sie verhaftet worden war. Es hatte ein schwarzes Taftoberteil mit viereckigem Halsausschnitt, kurze eingesetzte Ärmel, der dreiviertellange Rock aus Kreppstoff war am Oberteil angenäht und endete in einem fünf Zentimeter breiten Saum, ebenfalls aus Taft. Den Halsausschnitt zierten Rüschen, auch sie aus Krepp. Das Kleid spannte, sie war im fünften Monat schwanger. Die unglaublichen hygienischen Zustände hatten es mit sich gebracht, dass rötliche Ekzeme ihr Gesicht überzogen: Für alle Häftlinge des Traktes, in dem sie lag, gab es, Morgen für Morgen und Zelle für Zelle, denselben Emaillebecher Wasser, dasselbe Stück Seife, ein einziges Handtuch. Zum Glück war sie die erste im Reigen. Später bekam sie auf Anordnung eines Arztes Seife und Handtuch für sich alleine. Seit ihrer Ankunft in Magdeburg am 12. September 1950 hatte sie die Kleidung, in der sie festgenommen worden war, nicht mehr gewechselt. Während |43| sie so durch den Innenhof des Gebäudes geführt wurde, den winterliche Luft erfüllte, bereits am 18. Oktober hatte es den ersten Schnee gegeben, überkam sie, angesichts des Bildes, das sie in diesem Moment wie in einem Spiegel von sich selbst wahrnahm, für Sekunden ein Lachanfall. Hemmungslos brach es aus ihr heraus, und zu Tode erschrocken fuhren die vier Soldaten mit den Waffen im Anschlag darüber zusammen, junge Männer aus Russland, voller Furcht nun, dass die junge Deutsche noch vor ihrem Prozess, zu dem sie gerade abgeführt wurde, die Nerven verlor, durchdrehte, hysterisch wurde. Sie konnten nicht wissen, dass das helle Lachen der jungen Frau nur einem überscharfen Bewusstsein geschuldet war, einem ererbten Sinn fürs Groteske, der sie schützte in Situationen wie dieser. Die Nerven gaben nach, wenn sie alleine war. Nicht jetzt und nicht hier. Nicht vor diesen Gesichtern unter Schirmmützen, auf denen der rote Stern prangte, vor dem sie bislang keine Angst gehabt hatte, aber sie hatte auch keine Sympathien dafür empfunden. Sie hatte nur einen Mann geliebt, der fast dieselbe Uniform trug wie ihre Bewacher, von dem sie ein Kind erwartete, den sie heiraten wollte: den russischen Leutnant Wladimir Jegorowitsch Fedotow.
Wolodja.
Einen Monat war es her, dass sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, in einer Oktobernacht, hier, im Magdeburger Sitz des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes MGB, in einem Vernehmungszimmer, das voller Uniformierter war, als sie gegen dreiundzwanzig Uhr hineingeführt wurde, zur Gegenüberstellung. Der Vernehmer erwartete sie, drei weitere Offiziere, die Dolmetscherin. Zwischen ihnen Wolodja. Noch immer in Uniform, einschließlich der Schulterstücke, aber halb mit dem Rücken zu ihr, saß er auf einem Stuhl neben einem Tischchen, und versuchte zu rauchen, doch die Hand, mit der er die Zigarette hielt, zitterte. Sie zitterte unaufhörlich. Drei Mal erlosch die Zigarette, drei Mal wurde sie wieder angezündet. Dann mussten sie sich identifizieren, für das Protokoll bestätigen, dass sie sich kannten, ein Paar gewesen |44| waren. Unter Drohungen Fragen nach der behaupteten Fluchtabsicht beantworten, die sie in den Nachtverhören zuvor schon längst und wiederholt beantwortet hatte. Irgendwann gab der Vernehmer ihr »noch zehn Minuten«, weil ihre Antworten ihm immer noch nicht ins Konzept passten. Den aufsteigenden Weinkrampf unterdrückte sie, indem sie mit aller Kraft ihre Arme vor der Brust verschränkte und trotzig hervorstieß, zehn Wochen habe sie täglich siebzehn Stunden Zeit gehabt nachzudenken, und was ihr in dieser Zeit nicht eingefallen sei, würde ihr in den nächsten zehn Minuten auch nicht mehr einfallen.
Waren zu viele Leute im Raum? War ein härteres Verhör für den Zweck der Operation nicht nötig? Reichte das Material auch so aus, um den Fall endlich abschließen zu können? Oder war es, wenn es darauf ankam, völlig
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