Vereister Sommer
belanglos, ob und welches Material tatsächlich vorhanden war? Nach einer Pause, die ihre entschiedene Antwort offenbar provoziert hatte, klappte der Vernehmer die Aktendeckel zu und stellte ihr, während er auf dem Schreibtisch hantierte, wie nebenbei die Frage, ob sie noch etwas Persönliches zu Fedotow sagen wolle? Aber sie sagte nein, unterstrich es mit einem deutlichen Kopfschütteln: Niemand ging an, was sie Wolodja, in einer Situation wie dieser, noch zu sagen gehabt hätte. Schon gar nicht Geheimdienst-Offiziere, die erkennbar lüstern danach gierten, ihre hässliche Arbeit mit einer sentimentalen Schlussszene krönen zu können. Auch Wolodja wurde gefragt, auch er lehnte ab. Sie unterschrieb noch das Protokoll, Seite für Seite. Die Dolmetscherin übersetzte, hastig, man wollte fertig werden. Es war spät geworden. Dann brachte man sie zurück in ihre Kellerzelle, wo der bislang unterdrückte Weinkrampf mit Macht ausbrach, so heftig, dass die Wache es mit der Angst zu tun bekam und fragte, ob ein Arzt geholt werden solle. Aber sie wollte keinen Arzt sehen, sie wollte nur alleine sein.
Wolodja hatte das Protokoll ebenfalls unterschreiben müssen. |45| Seite für Seite, wie sie, hatte er seinen Namenszug links neben den ihren gesetzt. Er benötigte keinen Dolmetscher, um zu wissen, was auf den Blättern geschrieben stand, die sie ein letztes Mal vereinten. Dennoch war alles noch einmal verlesen worden, in ihrer beider Muttersprachen, die zu erlernen, um den anderen besser, genauer, tiefer zu verstehen, sie nie Zeit gehabt hatten:
Gegenüberstellung,
protokolliert am 25. 10. 1950, Besatzungsarmee
Ich, Oberuntersuchungsrichter der U-Abteilung des Nachrichtendienstes MGB der Militärabteilung 44400, Kapitän Stupkow, habe mit Hilfe der Dolmetscherin Unteroffizier Silkina eine Gegenüberstellung der Beschuldigten Schacht, Wendelgard, Ursula, Lisa, Charlotte, und dem Zeugen Fedotow, Wladimir, Jegorowitsch, durchgeführt. Zeuge Fedotow wurde über die Strafbarkeit falscher Aussagen und Verweigerung von Angaben lt. Artikel 92, 95 UK RSFSR unterrichtet.
Die Dolmetscherin (russisch-deutsch), Unteroffizier Silkina, wurde über die Strafbarkeit einer falschen oder nicht vollständigen Übersetzung lt. Artikel 92, 95 UK RSFSR unterrichtet.
Mit der Gegenüberstellung wurde um 23:00 Uhr begonnen.
Frage an den Zeugen Fedotow:
Kennen Sie die vor Ihnen sitzende Frau?
Antwort:
Ja, die vor mir sitzende Frau habe ich erkannt, sie heißt Christa. Ich habe sie Ende Mai, Anfang Juni 1950 kennengelernt und mit ihr intime Beziehungen gehabt. Es gab keine Probleme
|46|
oder Streitigkeiten zwischen uns. Die mir gegenüber sitzende Christa versuchte, mich zur Flucht in die Westzone des besetzten Deutschland zu überreden. Drei Mal hatte sie vorgeschlagen, mit mir dorthin zu fliehen, aber ich habe ihre Vorschläge abgelehnt und gesagt, daß ich nicht in die Westzonen des besetzten Landes fliehen wolle.
Frage an die Angeklagte Schacht:
Erkennen Sie den vor Ihnen sitzenden Offizier der Sowjetarmee?
Antwort:
Ja, den vor mir sitzenden Offizier der Sowjetarmee erkenne ich. Er heißt Wolodja und ist Leutnant. Ich habe ihn Ende Mai dieses Jahres kennengelernt und mit ihm ein intimes Verhältnis gehabt. Persönliche Probleme oder Streitigkeiten hatte ich mit Wolodja nicht, auch momentan habe ich keine. Den vor mir sitzenden Leutnant Wolodja bewegte ich zur Flucht aus seiner Militärabteilung. Ich habe ihm vorgeschlagen, mit mir in die Westzone des besetzten Landes zu fliehen, wo wir offiziell heiraten und dort bleiben konnten. Wolodja war damit aber nicht einverstanden.
Frage an den Zeugen Fedotow:
Wann und unter welchen Umständen hat Christa Ihnen vorgeschlagen, mit ihr in die Westzone des besetzten Deutschland zu fliehen?
Antwort:
Christa hat mir drei Mal vorgeschlagen, mit ihr in den Westen zu flüchten. Das erste Mal war es irgendwann Ende Mai dieses Jahres. Ich habe mich zu diesem Zeitpunkt mit Christa in der Nähe
|47|
der Gaststätte »Sportlerheim« getroffen. Wir haben uns über die nächsten Treffen und das gemeinsame Leben unterhalten. Bei einem Treffen hatte ich Christa mitgeteilt, daß wir uns in Zukunft nicht mehr sehen dürfen und in der Sowjetzone zu heiraten nicht möglich ist. Die Christa fragte mich, warum so etwas in den Westzonen nicht verboten ist. Darauf habe ich geantwortet, daß mich so etwas nicht interessiert. Danach hat Christa
Weitere Kostenlose Bücher