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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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»b« UK RSFSR und des Artikels 51 UK RSFSR, ins Besserungsarbeitslager für zehn (10) Jahre zu inhaftieren, ohne Beschlagnahme des Vermögens, da die Angeklagte nichts hat.
     
    Zeitlich beginnt die Strafe für die Schacht ab dem 15.   08.   1950, Vorgerichtszeitraum eingeschlossen.
     
    Das Urteil ist unwiderruflich, eine Kaution ausgeschlossen.
     
    Alle Unterschriften sind beglaubigt.
     
    Für die Richtigkeit: Oberstleutnant der Justiz: (Suchanow)
     
    Während sie hörte, was ihr zugedacht worden war, ein ganzes Jahrzehnt Trennung von Kind, Mutter, Verwandten und dem werdenden Wesen in ihrem Leib, für nichts anderes als für den Versuch, aus einer Liebe eine Familie werden zu lassen, fing ihr Bewusstsein an, Karussell zu spielen, Kettenkarussell: Es drehte und drehte sich, immer schneller und schneller, so |64| schnell, fast hätte es sie aus der Wirklichkeit geschleudert. Dennoch schaffte sie es, die Unterschrift auf das Schreckenspapier zu setzen; doch wie ihr das gelungen war, keinem hätte sie es mehr sagen können danach. Der Schock saß tief. Und niemand hatte ihr in dieser Stunde mit dem Wissen helfen können, dass das Tribunal in ihrem Falle nur die geringste Strafe verhängt hatte, die derartigen Tribunalen vorgegeben war. Als sie es wusste und begriff, später, in Hoheneck, wusste sie auch, dass sie dann, im Moment der Urteilsverkündung, stärker gewesen wäre. So hatte sie ihn zwar ohne Tränen überstanden, nicht aber ohne Blick in einen Abgrund, der sie schaudern machte.
    Nach dem Urteilsspruch gab es keine Verhöre mehr, konnte sie nachts endlich durchschlafen. Zwar holte ihr Vernehmer sie noch einmal zu sich und fragte, als ob er es nicht gewusst hätte, welches Urteil sie erhalten habe? Sie sagte es ihm, er aber meinte nur, dass sei doch wenig. Damals hielt sie ihn für verrückt oder zynisch, obwohl er sich in den Wochen zuvor ihr gegenüber anständig verhalten hatte, nie bösartig geworden war. Später, in Hoheneck, wusste sie es besser. Hinzugefügt hatte er, wie um seine Einschätzung ihrer Strafe glaubwürdiger zu machen, dass Wolodja fünfundzwanzig Jahre Sibirien bekommen hätte. Wofür, fragte sie sich? Nichts von dem, was sie vorgeschlagen hatte, hatte er akzeptiert, geschweige denn aufgegriffen. Sie hatte deshalb auf sich genommen, was aufzunehmen war, nicht zuletzt, um ihn von jedem noch so kleinen Verdacht zu entlasten. »Verleitung zum Landeshochverrat«, ihr Verbrechen, war das eine; aber Vorbereitung? Es wäre sein Todesurteil gewesen. Das hatte sie begriffen. Zuletzt in der Gegenüberstellung, als sie seine zitternden Hände bemerkte, den hilflosen Versuch, die Zigarette in Brand zu setzen, sie am Glühen zu halten. Es ging, weiß Gott, um mehr als um eine unschuldige Affäre, das war inzwischen auch ihr überklar ins Bewusstsein getrieben worden. Aber fünfunddreißig Jahre Arbeitslager für beide zusammen nur |65| dafür, dass sie nichts anderes gewollt hatte, als dass er und sie ein Paar mit Trauschein sein sollten? Warum durfte sie nicht mit nach Russland? Sie wäre dem Vater ihres Kindes doch jederzeit gefolgt. Sogar dorthin, und wohin dort auch immer. Aber das waren nun alles sinnlose Fragen, Gedanken, Vorwürfe.
    Mit dem Urteil hatten sich endgültig nicht nur alle Zukunftshoffnungen zerschlagen, auch die unmittelbare Gegenwart hatte sich gewandelt: Jetzt war sie keine Untersuchungsgefangene mehr, jetzt war sie eine Verurteilte und musste die Zelle wechseln, auf die gegenüberliegende Seite des Traktes, wo die Verurteilten auf ihren Abtransport warteten. Allerdings unterschied sich die neue Zelle kaum von der alten, auch hier gab es außer einem Holzpodest, auf das abends ein paar Matratzen gelegt wurden, einem Kübel für die Notdurft und einer Heizung mit wenigen Rippen, nichts, was den neuen Ort wenigstens um eine Nuance erträglicher gemacht hätte als den alten. An das Schlafen ohne Decke, Laken und Kopfkissen hatte sie sich gewöhnt. Lediglich ihr alter Mantel wärmte sie ein wenig. Am Abend nach der Urteilsverkündung, als wieder die Matratzen in die Zelle geworfen wurden, rollte sie sich darauf zusammen wie ein waidwundes Tier und weinte sich, an Tochter und Mutter denkend, in den Schlaf. Sie erwachte, weil etwas neben sie gefallen war, ein Gegenstand, mit dumpfem Geräusch auf ihr Lager halb unter der Erde. Als sie die Augen öffnete, sah sie in der geöffneten Klappe ein Gesicht; aber sie erschrak nicht, sie erkannte seinen Träger: Es war »Hering«, so

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