Vereister Sommer
vollkommen sinnlos waren. Also wandte Justiz-Oberstleutnant Suchanow sich nun, wie in der Regie vorgesehen, den Zeugen im Saal zu, die schon die ganze Zeit hinter ihr gesessen hatten, erhöht, der Raum ging |61| in ein stufenförmiges Auditorium über. Es waren ein Mann und eine Frau, ein Russe und eine Deutsche, ein Offizier und seine Freundin, die ein Kind von ihm erwartete. Der Offizier war Wolodjas Freund, die Frau, Traute Schakat, eine gute Bekannte von ihr. Zunächst befragte der Vorsitzende die beiden, ob sie ein intimes Verhältnis miteinander hätten, was sie rundweg abstritten. Die Lüge war so dreist, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als den Vorsitzenden des Tribunals demonstrativ anzugrinsen, während die beiden aus ihrer Höhe herab das Blaue vom Himmel logen. Der Oberstleutnant unterbrach daraufhin seinen abgekarteten Dialog über ihren Kopf hinweg und wandte sich mit der Frage an sie, ob das etwa nicht stimme?! Die Antwort, die er zu hören bekam, hätte er ahnen können, wohl deshalb war es auch das letzte Mal, dass er ihr überhaupt eine Frage stellte: »Wieso fragen Sie mich?«, sagte sie, immer noch einen spöttischen Zug um den Mund: »Den Zeugen wird doch ohnehin mehr geglaubt als einer Angeklagten!« Natürlich belasteten die beiden sie, dafür waren sie aufgeboten worden, indem sie bestätigten, dass sie versucht hätte, Wolodja zur Flucht in den Westen anzustiften. Wie sie dazu kamen, wusste sie nicht, keinem von beiden hatte sie von ihrer Idee auch nur ein Sterbenswörtchen verraten. Bald danach war die Verhandlung beendet. Die Pause bis zur Urteilsverkündung verbrachte sie mit den Belastungszeugen, die bis vor zwölf Wochen noch vertrauenswürdige Menschen für sie gewesen waren, miteinander in einem Vorraum, natürlich bewacht, aber sie konnten sprechen. Traute Schakat, die für kurze Zeit ebenfalls inhaftiert worden war, überraschenderweise aber wieder freigelassen wurde, wandte sich ihr plötzlich zu und sagte leise und mit weinerlichem Unterton: »Deine Mutter guckt mich gar nicht mehr an!« Sie antwortete der falschen Freundin mit derselben Deutlichkeit wie dem Vorsitzenden des Tribunals zuvor: »Dann wird meine Mutter wohl auch Grund dazu haben!«
Das Urteil wurde zuerst auf Russisch verkündet. Da sie |62| ein wenig von der Sprache ihres Freundes verstand, hörte sie etwas von
zehn
Jahren, glaubte aber sofort, sich verhört zu haben. Die deutsche Version allerdings raubte jeden Zweifel daran und damit alle Hoffnung auf einen milderen Ausgang der Geschichte:
Urteil Nr. 126
Im Namen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
Am 18. 11. 1950 wurde vom Militärtribunal der 92/401. Truppe, in Zusammensetzung von Oberstleutnant der Justiz Suchanow (Vorsitzender), Kapitän Besrutschko und Kapitän Melnowski, sowie dem Sekretär-Leutnant Melnikow, in einer geschlossenen Gerichtssitzung wegen der Anklage gegen die deutsche Bürgerin Schacht, Wendelgard, Ursula, Lisa, Scharlotte, wohnhaft in Wismar, Land Mecklenburg, ledig, parteilos, Ausbildung Mittelschule, nicht vorbestraft, die vorliegende Akte geprüft. Aufgrund der vorhandenen Beweispapiere der vorgerichtlichen Untersuchung wurde vom Militärtribunal folgendes
festgestellt:
Die Angeklagte Schacht hat in Wismar den Sowjetoffizier Leutnant Fedotow kennengelernt und hatte mit ihm ein Intimverhältnis. Da sie mit ihm eine Familie gründen wollte, hatte Schacht im Juli-August 1950 dem Fedotow zweimal vorgeschlagen, die Heimat zu verraten und zusammen mit ihr in die Westzone Deutschlands zu fliehen, mit der Absicht, dort die Ehe zu schließen und wohnen zu bleiben.
Zumal Fedotow in der Sowjetunion sowieso keine Eltern habe, müsse er dorthin auch nicht zurückkehren. Deshalb schlug sie vor, nach dem Westen zu fliehen.
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Auf der Grundlage des Dargelegten hat das Militärtribunal die Schacht für schuldig erklärt, wegen Aufhetzerei die Heimat zu verraten bzw. wegen Verbrechen lt. Artikel 17-58-1 »b« UK RSFSR. In Anbetracht der Schwangerschaft von Schacht und daß die Folgen ihrer Absicht, obwohl sie den Fedotow zum Landesverrat überreden wollte, nicht eingetreten sind, ist es dem Militärtribunal möglich, sie nicht umfassend nach Artikel 17-58-1 »b« UK RSFSR zu bestrafen.
Entsprechend Artikel Nr 319, 320 UPK RSFSR wurde sie weiterführend vom Militärtribunal zu nachfolgendem
verurteilt:
Schacht, Wendelgard, Ursula, Lisa, Scharlotte, ist, aufgrund des Artikels 17-58-1
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