Vereister Sommer
worden war. Das ungeheure Glück, das sie durchfuhr, als sie ihr Kind so plötzlich in der Nähe sah und ihr Kind sie, zum Greifen einander nah, war nichts anderes als ein ungeheurer Schmerz, der sie fast zu Boden riss. Doch schaffte sie es, auf ihre Tochter zuzulaufen, die sich ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte, sie in den Arm zu nehmen, an sich zu drücken und ihr immer wieder nur liebkosende Worte zuzuflüstern. Zutiefst verwirrt von der vollkommen unerwarteten Begegnung, ja, erschüttert, hielten der Polizeioffizier und die Mitgefangene eine ganze Weile lang Abstand, bis der Uniformierte schließlich behutsam zu der lebenden Skulptur aus Mutter und Kind trat und leise sagte, sie müssten nun wohl doch langsam weiter. Weit entfernt von jedem Befehl, war es eine fast demütige Bitte, die der Mann in Uniform an seine Gefangene richtete. Mit der beruhigenden Formel, dass die Mama bald wiederkommen würde, übergab sie der Bekannten, die geradezu schockstarr neben der Szene stand, das Kind und lief, wie in Trance, mit ihrem Bewacher und der Haftgefährtin die letzten Meter zur Poliklinik. Von weiteren Essenstransporten bat sie allerdings, befreit zu werden. In jener Zeit auch schob ein anderer Polizist, der Stiefvater einer Klassenkameradin, der sie erkannt hatte, einen Kassiber in den Schlitz des Briefkastens ihrer Familie, zwei Mal kam daraufhin ihre Mutter ins Volkspolizeikreisamt, und zwei Mal brachte sie die Tochter mit, die sogar bis in die Zelle durfte, in der die Mutter gefangen war, um dort einen kurzen langen Moment mit ihr zu spielen. Viel später erfuhr sie, dass derselbe Polizeioffizier, dem sie in die Poliklinik gefolgt war, nach ihrem endgültigen Verschwinden bei einem |71| Zufallstreff auf dem Marktplatz ihrer Mutter auf deren Frage, ob er etwas über ihre Tochter wüsste, mit einer merkwürdigen Ausflucht geantwortet hatte: Er habe leider keine Zeit, er müsse heute noch nach Magdeburg fahren. Die Mutter deutete die Antwort richtig; ebenso begriff sie, dass nach Magdeburg für sie kein Weg führte. Auch schien jener Offizier, der das Drama im Stadtpark miterlebt hatte, dafür gesorgt zu haben, dass sich am Nachmittag des 9. September, ihres dreiundzwanzigsten Geburtstags, plötzlich die Klappe ihrer Zellentür öffnete und zu einer lustigen Melodie, die ein Unsichtbarer offenbar auf einem Kamm blies, ein Frühstücksbrett hindurchgeschoben wurde, auf dem Blumen lagen und ein wenig Kuchen. Zuletzt machte der Kalfaktor, der ihr die Gaben auf diese etwas umständliche Art gereicht und zu dem sie sich dankend hinuntergebeugt hatte, wie ein Clown noch einen Handstand auf dem Gang, dabei gratulierte er mit fröhlicher Stimme.
Am 11. September 1950, gegen einundzwanzig Uhr dreißig, war sie wieder einmal aus ihrer Wismarer Zelle, die sie mit Kriminellen teilte, geholt worden. Zuerst dachte sie an ein weiteres Verhör; aber die sowjetischen Offiziere, die sie in Empfang nahmen, sagten zu ihrer Verblüffung, sie könne jetzt nach Hause. Als sie Anstalten machte zu gehen, bedeutete man ihr, dass sie gefahren werden würde. Die Fahrt, die ebenfalls in einer Limousine stattfand, deren Fenster mit dunklen Gardinen verhängt waren, ging zunächst aber quer durch die Stadt bis zur ehemaligen deutschen Flak-Kaserne, in der seit 1945 die Russen einquartiert waren. Hier stieg einer der Offiziere aus und verschwand in dem Objekt. Kurze Zeit später kam er jedoch wieder zurück, und die Fahrt ging nun tatsächlich in die richtige Richtung, stadteinwärts, nach Hause. Als sie von der Lübschen Straße aus in die Rosa-Luxemburg-Straße einbogen und nach wenigen Sekunden Fahrt durch die Frontscheibe des Wagens die zwei erleuchteten Fenster ihrer kleinen Wohnung im Parterre der Nr. 31, hinter denen sie Mutter und |72| Tochter wusste, zu sehen waren, begann ihr Herz schneller zu schlagen, gleich würde der Alptraum vorbei sein, die Lehre gezogen und das Leben wieder schön. Der Wagen wurde langsamer, rollte aus, fast hielt er. Fast. Denn bevor er tatsächlich stand, gab der Fahrer plötzlich wieder Gas, und die Limousine schoss wie ein Rennwagen davon. Instinktiv, als hätte sie geahnt, welches Spiel mit ihr gespielt werden sollte, hatte sie sich jedoch schon während des Einbiegens in ihre Straße schlafend gestellt und nur aus zusammengekniffenen Augen heraus die Annäherung an ihr Zuhause beobachtet. So schrie sie weder vor Entsetzen auf, noch gab sie überhaupt zu erkennen, dass die Aktion sie getroffen haben könnte.
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