Vereister Sommer
Besitzer des Hauses geworden, in dem es zwischen seinen Bewohnern einen wunderbaren Zusammenhalt gab, die politischen Verhältnisse vor und nach 1945 konnten der Hausgemeinschaft nicht das Geringste anhaben. Besonders gefestigt wurde sie in den Bombennächten des Weltkrieges, wenn sie alle, vom Sirenengeheul aus dem Halbschlaf gerissen, aus den Betten schossen, in die sie sich zuletzt nur noch mit Tageskleidern begaben, und Zuflucht suchten im Keller, wo sie zusammen mit Frieda Schult, der Hauswirtin, und deren Töchtern Gerda und Elfriede sowie dem älteren Ehepaar Schmidt aus dem zweiten Stock unterm Dach jenem nie zu vergessenden grauenhaften Pfeifen der herabrasenden Spreng- und Brandbomben der angloamerikanischen Luftflotten, dem mörderischen Gedröhn und Geprassel über ihren |59| Köpfen gemeinsam zu widerstehen suchten. Zum Glück wurde ihr Haus nie getroffen, nicht einmal der letzte Großangriff auf die Stadt in der Nacht vom 14. zum 15. April 1945, der das ganz in ihrer Nähe gelegene berühmte Gotische Viertel mit den mächtigen Kirchen St. Georgen und St. Marien einer schweren Luftminenattacke aussetzte, beschädigte mehr an ihm als lediglich Fenster, Türen und Dachbedeckung. Dass die Türme, Mauern und Pfeiler der beiden gotischen Kathedralen dem Inferno ebenfalls standgehalten hatten und sie nur ausgebrannt waren, grenzte an ein Wunder. Es würde, was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnte, dem grandiosen Baukunstwerk Marienkirche aus dem 13. Jahrhundert allerdings nichts nützen, dass es dem barbarischen Akt halbwegs entkommen war, blieb es doch der SED-Stadtverwaltung vorbehalten, 1960, mitten im Frieden, wenigstens an ihr das im Krieg begonnene Zerstörungswerk zu vollenden: durch Sprengung des gigantischen Chores. Als die lange herumliegenden Trümmerberge endlich abgetragen waren, wurde aus dem Ort, an dem jahrhundertelang Gottesdienste gefeiert worden waren, ein staubiger Parkplatz für luftverschmutzende Zweitakter.
Noch Jahre später schwärmte die Tante jedenfalls in den höchsten Tönen von dem blonden Lockenkopf aus Russland, der sich auf dem Heimweg als wahrer Kavalier erwiesen und ihr, die den Ort der Feier mit einem ziemlichen Schwips verließ, über so manche Pfütze hinweg geholfen hätte. Auch deshalb trafen sie sich schon am ersten Weihnachtstag alle wieder, dieses Mal zum Kaffee bei Karl und Lotte, die eigentlich Emma hieß, aber in der Konsequenz der merkwürdigen Tradition der Familie, die Vornamen zu tauschen, von den Jungen nur Lotte genannt wurde, die Erwachsenen sagten gar Bobby zu ihr. Das kinderlose Ehepaar verfügte, im Gegensatz zu ihnen, die in einem winzigen und äußerst bescheiden ausgestatteten Quartier lebten, über eine große, schön geschnittene und edel eingerichtete Wohnung, was Jurij so |60| sehr beeindruckte, dass er glaubte, wie er seiner Freundin später verriet, indem er sie auf den Kopf zu danach fragte, bei Kapitalisten zu Gast gewesen zu sein. Doch Karl Oemink war kein Kapitalist, er war als Kassenrendant nur Vizechef der örtlichen Krankenkasse, aber das immerhin. Lotte, das Dienstmädchen Emma aus der armen Fischerfamilie Schacht aus Fährdorf auf Poel, hatte Glück gehabt; doch war sie darüber nicht hochmütig geworden wie im Märchen von des Fischers Fru.
19. November 1950
Der geräuschvolle Wiedereinzug der gestiefelten und uniformierten Mitglieder des Tribunals riss sie aus ihrem traumwandlerischen Fluchtversuch in eine bessere Zeit und holte sie unbarmherzig zurück in die Wirklichkeit des 19. November 1950. Nachdem das Stühlerücken beendet und einen kurzen Moment lang Ruhe eingekehrt war, nahm der Vorsitzende des Tribunals die Verhandlung wieder auf und fragte, ob sie nicht gewusst hätte, dass es verboten sei, mit sowjetischen Offizieren Umgang zu haben? Auch diese Frage war unverschämt, außerdem ging sie in geradezu lächerlicher Weise an jeder Realität vorbei: »Nein«, antwortete sie deshalb so knapp wie möglich, um dann doch noch, sie konnte nicht anders, den langen Satz anzufügen: »Im Übrigen müssten Ihre Offiziere das besser gewusst haben als ich, warum sind sie uns denn so nachgelaufen?« Die Mienen der Mitglieder des Tribunals zeigten nach diesem neuerlichen Beweis, dass man sie mit Fragen, die keine waren, nicht einschüchtern konnte, jenen Zug von Zynismus, der signalisierte, dass alle Beteiligten wussten, dass sie nichts anderes als Marionetten in einer juristischen Farce und weitere Dialoge dieser Art deshalb
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