Vereister Sommer
der Nationalsozialisten, nach dem Besuch einer Weihnachtsfeier der kommunistischen Seeleutegewerkschaft, zu der er sie, ihren Worten zufolge, »regelrecht bequatscht« hatte, zu signalisieren gewusst hatte, wie wenig sie auch mit diesen Leuten gemein hätte und haben wollte. Auslöser der innerfamiliären Botschaft eindeutiger Natur war das Erlebnis eines ordentlichen Handgemenges an jenem Abend gewesen: zwischen Frauen, deren Kinder sich über die verteilten Geschenke in die Haare gekriegt hatten. Das Gekeife und Gekeile unter den Erwachsenen, ausgerechnet bei einer Weihnachtsfeier, waren ihr dermaßen abstoßend erschienen, dass sie ihren Mann mit wenigen Worten, aber einem scharfen Blick zwang, die Veranstaltung in der Wismarer »Tonhalle«, einer vor allem von Arbeiterorganisationen genutzten Lokalität der Stadt, vorzeitig zu verlassen, nicht ohne auf der Straße zu bemerken, dass sie mit diesen Kreisen »ums Verrecken nicht« jemals wieder etwas zu tun haben wolle. Erfahrungen und Kämpfen von existentieller Wucht dieser Art entsprang ihre Nüchternheit, die manch einer als Kälte missverstand oder dort Gefühlsarmut sah, wo nur aus Selbstschutz |57| Reserve und Distanz herrschten. Dabei war auch sie, die Fontane-, Storm- und Raabe-Liebhaberin, die sich im eleganten Hutmacher-Salon Nischang am Alexanderplatz in Berlin – gelernt hatte sie im Putzmachergeschäft Radloff in ihrer Geburtsstadt Stettin – als waches Talent beim schöpferischen Aufgreifen und Umsetzen neuer Hut-Ideen für die Damenwelt der Stadt bewährt hatte, dem jungenhaften Charme Jurijs erlegen, wie alle in der Familie.
Ja, auch ihre Mutter hatte den blonden Lockenkopf aus Archangelsk gemocht, auch gesagt und gezeigt hatte sie es, obwohl sie doch immer so sparsam gewesen war mit Gesten der Zuneigung, zu sparsam, wie ihre Tochter fand, die sich als Kind nach mehr Umarmungen und Mutterküssen gesehnt hatte. Aber Jurij hatte auch ihr Gesicht wieder zum Leuchten gebracht, vielleicht war mit ihm für dieses eine Weihnachtsfest der vermisste Sohn zurückgekehrt, sie waren gleichaltrig gewesen. Dieses Leuchten in ihrem Gesicht war besonders an jenem wunderbaren Heiligabend 1947 aufgefallen, als sie nach dem bescheidenen Festessen, das ihnen so üppig vorkam, um den spärlichen, aber vom Lichterglanz überfluteten Tannenbaum versammelt saßen und deutsche Weihnachtslieder sangen, die von den russischen Gästen ergriffen mitgesummt wurden. So hatten es sich Jurij und Iwan, sein engster Freund an Bord, ausdrücklich gewünscht, nachdem sie eingeladen worden waren. Gewünscht hatte Jurij sich auch das Festessen: Hackfleisch und Kohl, wie es von seiner Mutter immer bereitet worden war, sie lebte nicht mehr. Seit ihrem Tod hatte er es nicht mehr gegessen. Es gelang ihnen zwar, Kartoffeln zu besorgen, etwas Margarine, Pfeffer und Salz, an Hackfleisch und Kohl jedoch war nicht zu denken, in diesem Dezember 1947. Jurij und Iwan aber schafften es und besorgten beides, zwar kein echtes Hackfleisch, immerhin jedoch eine große Büchse Corned Beef. Am Festtag selber standen sie bereits früh um zehn vor der Tür; nur kannten sie die deutschen Weihnachtssitten nicht. Um sechs Uhr abends durften sie wiederkommen, |58| und sie kamen pünktlich und fein herausgeputzt und erwartungsvoll wie kleine Kinder. Nach dem Festessen zeigte sich vor allem Jurij als reines Glückskind: Er strahlte, denn alles, was er an diesem Abend am Tisch in der Fremde erlebt hatte, erinnerte ihn an sein Zuhause, an das Zuhause, das es seit dem frühen Tod der Mutter für ihn nicht mehr gab. Seinem Vater war er davongelaufen, er verachtete ihn und die anderen Staats- und Parteifunktionäre des Landes.
Sie
, das war seine stehende Rede, besaßen alles, das Volk aber hätte nichts. Er hasste solche Ungerechtigkeit, und er verbarg seinen Hass auf die Verhältnisse kaum. Das sollte ihm bald zum Verhängnis werden. Später stießen, wie in all den Jahren zuvor, auch noch Onkel Karl und Tante Lotte in die weihnachtliche Runde, eine Schwester ihres verstorbenen Vaters. Man sang, trank Schnaps und parodierte die bayerische Mundart, es wurde immer lustiger in dem kleinen Wohnzimmer. Doch um Mitternacht war Schluss. Zusammen mit den beiden Jungs aus Russland verließen Tante und Onkel in bester Stimmung das Haus in der Wismarer Baustraße, die seit 1946 Rosa-Luxemburg-Straße hieß, zu dem im Hof eine Hufschmiede gehörte. Hans Schult, Schmiedemeister und Pächter des Ganzen, war irgendwann auch der
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