Vereister Sommer
gebückter Haltung an den Wagen vorbei und prüften mit kurzen Schlägen die Sicherheit der Räder von Lok und Waggons, Gepäck wurde vorbeigekarrt, Postsäcke wurden ausgetauscht, aber kein Gesicht war darunter, das sie wiedererkannt hätte, kein Mensch, dem sie vom regenfeuchten Fenster aus hätte zurufen können:
Ich bin wieder da, bin wieder frei! Erkennt ihr mich noch?
Vor drei Jahren und vier Monaten war sie zum letzten Mal in dieser Stadt gewesen. Sie war ihr nicht unvertraut, aber verhasst. Hier war ihre Schwester gestorben, 1944, mit Zwanzig, an einer Schwangerschaftsvergiftung. Für eine Nacht hatte man sie hierhergebracht, eine Zwischenstation auf dem Weg nach Magdeburg, wo das zuständige Sowjetische Militärtribunal seinen Sitz hatte. Die Gesichter, mit denen sie die Nacht in der Schweriner Durchgangszelle verbracht hatte, waren ihr in der zurückliegenden Zeit verlorengegangen. Was nicht verlorengegangen war und niemals verlorengehen würde, waren die unmittelbaren Stunden davor, die letzten in Wismar, wo sie seit dem 15. August einsaß, in den Kellerzellen des Volkspolizeikreisamtes zwar, aber tabu für Befragungen durch die deutsche Behörde. Hier war sie – nach der ersten Vernehmungsrunde, ohne Essen oder Trinken bis Mitternacht, im Wismarer Hauptquartier des allmächtigen Lawrentij Berija und seines Vertrauten in Deutschland, des stellvertretenden Chefs der Sowjetischen Kontrollkommission und leidenschaftlichen Folterknechts, Generaloberst Bogdan Kobulow, in einer kleinen Backsteinvilla am Lembkenhof, wo auch viele andere Offiziere der Besatzungsarmee ihre Häuser hatten –, vom sowjetischen Staatssicherheitsdienst wochenlang verhört worden, meist nachts, wenn der Körper sich danach sehnte, zur Ruhe zu kommen. Oder am Tag, nach nur wenigen Stunden Schlaf. Wieder und wieder wurde ihr im Vernehmungszimmer dieselbe unsinnige Frage an den Kopf geworfen, welchem westlichen Agenten sie ihren Ausweis übergeben hätte? Ja, sie hatte keinen Ausweis mehr, als man sie verhaftete. |69| Nein, sie wusste nicht, wo er war. Vielleicht hatte sie ihn verloren; vielleicht hatte ihn ihr auch einer gestohlen. Sie wusste es jedenfalls nicht. Irgendwann konnte sie nervlich nicht mehr und schrie, wenn sie ihr nicht glauben wollten, könnten sie sie ja erschießen. Von da an wurde nicht mehr nach dem Ausweis gefragt, aber wie beiläufig erfuhr sie wenig später von der Dolmetscherin, dass das angeblich gesuchte Dokument die ganze Zeit über im Schreibtisch des Vernehmers gelegen hätte. Und dann gestand ihr die Russin in der Uniform des Geheimdienstes zu ihrer vollkommenen Überraschung, sie könne sie sehr gut verstehen, auch sie habe einmal einen Deutschen geliebt. Der Umstand jedoch, dass sie ansonsten in deutschem Gewahrsam war, sorgte eines Tages dafür, dass ihre Angehörigen, solange sie sich noch in Wismar befand, die Möglichkeit hatten, sie zu besuchen, ein wenig Kleidung und andere Dinge vorbeizubringen, darunter einen Mantel, den ihr ihre Mutter genäht hatte.
Dieser letzte Kontakt für lange Zeit war aber nur das Ergebnis eines ebenso unglaublichen wie unwahrscheinlichen Zufalls in den wenigen Wochen ihres offiziell nicht mitgeteilten Gefangenendaseins in ihrer Heimatstadt. Eines Vormittags holte ein wachhabender VP-Offizier sie und eine andere Inhaftierte aus ihren Zellen, mit der Maßgabe, ihn nach draußen zu begleiten, zur nahe gelegenen Stadtpoliklinik, von wo das warme Essen für die Untersuchungsgefangenen bezogen wurde. Zwischen der Poliklinik und der Polizeibehörde, einem Bau im Tudorstil, von Zinnen und Türmchen gekrönt, in dem die erste Zeit nach dem Krieg noch die sowjetische Ortskommandantur residiert hatte, drapiert mit Stalinbildern und Propagandatransparenten, lag jedoch ein beliebter Durchgangspark voller Spielplätze, Bänke, alter Bäume und Gewässer, auf denen Schwäne und Enten ihre Kreise zogen oder auf zugeworfenes Futter warteten. Er wurde »Lindengarten« genannt. Ihn musste man durchqueren, pendelte man zwischen beiden Institutionen oder wollte man aus den östlichen und |70| südlichen Teilen der Stadt zum Bahnhof oder zum Hafen. Nichtsahnend, folgten sie und ihre Haftkameradin dem Polizeioffizier, als sie, nur wenige Sekunden nachdem sie den Park betreten hatten, auf einer Bank eine gute Bekannte sitzen sah, zu deren Füßen selbstvergessen ein Kind spielte, ein kleines Mädchen: Es war kein anderes Mädchen als ihre Tochter, von der sie vor Tagen so brutal fortgerissen
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