Vereister Sommer
nannte sie ihn. Einer der Wachsoldaten, der sie einmal gefragt hatte, wie der Fisch auf Deutsch heiße, der zum allmorgendlichen russischen Gefangenenfrühstück gehörte. Er hatte ihr eine Mohrrübe zugeworfen, wie er es früher schon mit Zwiebeln oder Kartoffeln getan hatte. Als sie sich leise bedankte, fragte er nach dem Urteil. »Zehn Jahre«, sagte sie und weinte. »Du musst nicht weinen«, sagte er mit beschwörender Stimme, »in zwei Jahren bist du wieder zu Hause, glaub |66| mir! Und da, wo du hinkommst, kriegst du Besuch, auch Pakete wirst du bekommen, du kannst es mir glauben.« Aber sie glaubte ihm nicht, konnte ihm nicht glauben, glaubte vielmehr, dass er sie nur trösten wolle. Es tat ihr gut, und es änderte doch nichts.
22. Januar 1954
Hering
, dachte sie und sah hinaus in die Dunkelheit hinter der Fensterscheibe ihres Zugabteils. Draußen war es so finster, wie es nie finster geworden war, nachts, in den Zellen halb unter der Erde von Magdeburg, immer brannte das Licht in den zwei mal vier Meter großen Löchern, aber auch daran gewöhnt sich der Mensch, wenn er nur Schlaf bekommt, seligen Schlaf, in dem alles versinkt, was die Seele im Wachen quält. Der schmächtige Russe hatte recht behalten. Überhaupt hatte er Licht gebracht in das andere Dunkel, das dort unten herrschte, selbst noch am Tage. Wenn er zum Wachdienst eingeteilt war, ging es ihr besser. Er sorgte dafür, dass sie sich bei der Brotausgabe das größte Stück aussuchen konnte, blieb Würfelzucker übrig, der zum obligatorischen Tee gehörte, brachte er ihr ihn, mit dem Hinweis auf das Baby in ihrem Leib, ihr und keinem anderen. Er stahl sogar Mohrrüben und Zwiebeln für sie aus der Küche. Jeden Morgen zum Frühstück reichte man allen Gefangenen am Sitz des Tribunals im ehemaligen Polizeipräsidium der Stadt Magdeburg einen Brocken Brot von fast einem Pfund, einen halben gesalzenen Fisch, vier Stückchen Würfelzucker und einen Topf heißen Tee. Da sie Tee nicht mochte, kippte sie ihn sogleich weg. Mittags gab es Buchweizengrütze, Kascha genannt; manchmal waren es aber auch nur aufgequollene Haferflocken oder Sago, in Salzwasser gekocht und so dick, dass der Löffel darin steckenblieb. Das Abendessen variierte ebenso wenig: Tagaus, tagein fand sich Kapusta in der Blechschüssel, Kohlsuppe, die sie allerdings mit Heißhunger und Genuss herunterschlang. Aber »Hering«, |67| von dem sie bald nur noch »Küken« genannt wurde, dachte, selbst wenn er Hofdienst hatte, an sie: Während seiner Runden entfernte er für einige Zeit die Holzverblendung vor ihrem Fenster, das halb aus der Erde ragte, und sorgte so dafür, dass hin und wieder wenigstens frische Luft in ihr Verlies strömen konnte. »Hering« war in jeder Hinsicht das Gegenteil von »Mephisto«, dem anderen Wachsoldaten, einem schlanken, großen Kerl mit glühenden Augen, der sie in den ersten Wochen so lange mit gemeinen Fragen und obszönen Gesten traktierte, bis sie ihm einmal, nachdem sie lange so getan hatte, als würde sie ihn nicht verstehen, einen Becher Wasser durch die geöffnete Klappe ins Gesicht klatschte. Da die Tür verschlossen war und die Wachposten über Schlüssel nicht verfügten, konnte er ihr nichts anhaben. Aber selbst »Mephisto« war nicht gänzlich unerreichbar für das Elend, das er und seine Kameraden bewachten, zumal sie die einzige Frau war, wie »Hering« ihr verraten hatte, so wie er ihr verraten hatte, dass die Männer viel mehr weinten als sie. Seit der Nacht der Gegenüberstellung mit Wolodja, als sie nach der Rückkehr in ihre Zelle auf den Matratzen ein heftiger Weinkrampf gepackt hatte, war »Mephisto« ihr gegenüber ein anderer geworden. Er wirkte betreten, wenn er sie sah; keine Anzüglichkeit verließ mehr seinen Mund. Auch »Mephistos« Herz war offenbar noch nicht ganz versteinert.
Sechs Minuten nach fünf lief der D 184 Dresden–Rostock auf dem Hauptbahnhof in Schwerin ein. Sie war so gut wie zu Hause und spürte, wie ihre innere Spannung fast ins Unerträgliche wuchs und eine nicht mehr zu dämpfende Erregung Besitz von ihr ergriff. Zum ersten Mal auf dieser Reise versuchte sie dennoch, bewusst wahrzunehmen, was draußen, auf dem Bahnhof, in all der Geschäftigkeit des normalen Alltagslebens, wirklich geschah: Bahnbeamte mit roten Dienstmützen eilten hin und her oder tauschten Informationen aus, Menschen verließen den Zug, andere stiegen hinzu, technische Kontrolleure mit kleinen Hämmern an langen Stielen |68| liefen in
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